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Die Schweiz rettet ihr filmisches Erbe

Hozhacker in Lausanne 1896. (Bild: Cinémathèque suisse) Keystone

Das Schweizer Filmarchiv veröffentlicht eine DVD mit den allerersten Filmen, die in der Schweiz entstanden sind.

Damit werden die ersten Ergebnisse der Rettungsaktion “Helvetica” für eine breite Öffentlichkeit zugänglich.

Sommer 1896 in Genf. Knaben springen von einem Sprungturm ins Wasser, lachen, spritzen, planschen. Eine unspektakuläre, alltägliche Szene. Es sind die allerersten Filmbilder, die in der Schweiz gedreht worden sind. Realisiert hat sie der Genfer Uhrmacher Casimir Sivan.

Dass diese Aufnahmen überhaupt noch existieren, ist der Arbeit der Cinémathèque suisse (Schweizer Filmarchiv) zu verdanken. Seit 1996 arbeitet sie systematisch an der Rettung und Bewahrung des Schweizer Filmkulturguts.

Es ist ein Rennen gegen die Zeit, denn die bis Anfang der fünfziger Jahre als Filmträger verwendete Nitrocellulose zerfällt unaufhörlich. 80 Prozent der Stummfilm-Weltproduktion und ein Fünftel der frühen Schweizer Filmproduktion sind bereits verloren.

Mit der DVD “Es war einmal… die Schweiz” gewährt die Cinémathèque nun Einblick in ihre Arbeit und präsentiert Ergebnisse der Rettungsaktion “Helvetica”. Zu sehen ist eine Auswahl der allerersten Filme, die zwischen 1896 und 1934 in der Schweiz entstanden sind.

Die siebte Kunst erobert die Schweiz

Die DVD dokumentiert, wie die siebte Kunst vor mehr als hundert Jahren die Schweiz eroberte. Wie es war, als die ersten Kameras auf den öffentlichen Plätzen auftauchten und festhielten, was ihnen vor die Linsen kam. Neugierig beobachtet von den Passanten, die in den Filmen oft nur zufällig am Rande auftauchen.

Denn das Interesse der Kameramänner galt zunächst weniger der Abbildung des Alltags. Film war nicht billig, und man reservierte ihn für das, was man für besonders wertvoll hielt: Städtepanoramen, Monumente und technische Errungenschaften.

Doch sind es die Menschen, die den heutigen Betrachter am meisten in ihren Bann ziehen: Die Basler, die 1896 auf der mittleren Rheinbrücke die Kamera skeptisch umkreisen, die Holzhacker im herbstlichen Lausanne (ebenfalls 1896). Die Reisenden, die 1906 in Luzern den Raddampfer “Schwyz” verlassen, am Quai erwartet von den Kutschen der Luxus-Hotels.

Reise in die Vergangenheit

Die DVD gleicht einer Reise in die Vergangenheit, die zugleich fremd und doch vertraut ist. Viele Kurzfilme zeigen traditionelle Anlässe und Bräuche. Dabei wird eine erstaunliche Kontinuität schweizerischer Identitätsstiftung sichtbar.

So zum Beispiel die Landesausstellungen von Genf (1896) und Bern (1914). Das Winzerfest in Vevey (handkoloriert, 1905), die Chästeilet im Berner Justistal (1923) und mit der Landsgemeinde von Trogen (1925) das immer noch gültige Sinnbild direkter Demokratie.

Exotische Bergler

Wie die eigene bäuerliche Kultur schon früh die Schweizer Bildungselite befremdete, wird deutlich im Film über das Lötschental (1916), “dem wildesten Ort Europas”. Unter dem ethnologisch-kolonialen Blick der Kamera werden aus den Einheimischen exotische Studienobjekte.

Das Ende dieser alten Schweiz dokumentiert unspektakulär die Fahrt der letzten Postkutsche im Kiental (1925).

“Modern Times”

Von besonderer Wucht ist die Reportage über die Eisenwerke von Frauenfeld (um 1912), deren Bilder an Chaplin’s “Modern Times” erinnern. Der Film zeigt die schweisstreibende Schwerstarbeit zwischen Schwungrädern und Antriebsriemen.

Er bildeten einen scharfen Kontrast zu der handkolorierten Modeschau (um 1918), wo modische Schweizerinnen züchtig und schüchtern die neuste Frühlingsmode präsentieren.

Soziale Lage kaum dokumentiert

Leider macht die auf der DVD enthaltene Auswahl restaurierter Kurzfilme die wirtschaftliche, soziale und politische Realität der damaligen Schweiz nur selten sichtbar.

Zwar findet sich eine historische Rede Goebbels (“Deutschland will den Frieden”) vor dem Völkerbund in Genf (1933), doch fehlen Bilder vom Generalstreik, der grossen Arbeitslosigkeit, der Krise und der sozialen Not.

Allerdings finden sich immer wieder unerwartete Hinweise auf die soziale und wirtschaftliche Lage. So etwa beim Besuch von Kaiser Wilhelm II in Zürich (1912), wo am Bahnhofsplatz hinter der in Reih und Glied aufgestellten Ehrenkompanie eine Auswanderungs-Agentur zu erkennen ist.

Die Schweiz war damals Auswanderungsland, und Tausende mussten aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen. Heute befindet sich an dieser prominenten Lage ein grosses Reisebüro, und aus den Schweizer Wirtschaftsflüchtlingen sind Touristen geworden.

Gemeinsames Erbe

Film ist Erinnerung in lebendiger Bildform. Keine andere Kunst, kein anderes Medium ist ergreifender und umfassender als der Film, aber auch kein anderes ist mehr vom Verfall bedroht.

Das Schweizer Filmarchiv in Lausanne bewahrt und restauriert in aufwändiger Kleinarbeit das audiovisuelle Gedächtnis der Schweiz. Mit der Veröffentlichung der DVD wird ein kleiner Teil dieses kollektiven Schatzes nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.

swissinfo, Hansjörg Bolliger

Die viersprachige DVD “Es war einmal… die Schweiz” ist für Fr. 39.50 im Schweizer Buch- und Videohandel erhältlich. Die viersprachige DVD (Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch) kann auch direkt bei der Cinémathèque bestellt werden (dvd@cinematheque.ch).

Seit 1998 betreibt die Cinémathèque in ihrem Archivzentrum in Penthaz ein Atelier für die Restauration .
Die Cinémathèque gehört zu den führenden europäischen Instituten zur Filmrestauration.

Die Rettungsaktion “Helvetica” wird von Memoriav, dem Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz, finanziell unterstützt.

Dem 1995 gegründeten Verein Memoriav gehören als Gründungsmitglieder die Landesbibliothek, das Bundesarchiv, die Landesphonothek, das Schweizerische Filmarchiv und die SRG an.

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