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Einsicht durch Ansicht

"Man rief Arbeitskräfte und es kamen Menschen." (Max Frisch). Italienische Saisoniers bei der medizinischen Untersuchung in Chiasso. Siamo Italiani

Kaum einer hat in der Schweiz mit filmischen Mitteln mehr bewegt: Mit einer Hommage ehrt Locarno Alexander J. Seiler, einen Pionier des neuen Schweizer Films.

Durch seinen legendären Film “Siamo Italiani” nahm die Schweiz 1964 die Emigranten erstmals als Menschen wahr.

swissinfo: Herr Seiler, “Siamo Italiani” ist durch seine Bildsprache und Montage von nur selten erreichter Intensität. Hatten Sie damals Vorbilder?

Alexander J. Seiler: Nein, aber wir wollten etwas anderes machen als das, was damals in der Schweiz als Dokumentarfilm galt. Das war ja Kulturfilm und zum Teil schlicht Public Relation.

Wir wollten so nahe wie möglich an der Realität sein. Dazu setzten wir die neuen technischen Mittel ein: leichte Kamera, Synchronton. Das einzige Licht bestand in einer 500 Watt-Fotolampe.

Gedreht wurde auf 16 mm-Umkehrfilm. Damit konnten wir einen Direkt-BlowUp auf 35 mm machen, um den Film in den Kinos zu zeigen. “Siamo Italiani” war der allererste BlowUp eines Langfilms in der Schweiz.

Wie waren die Reaktionen auf ihre neue Arbeitsweise?

Die etablierten Filmkritiker haben uns damals als Dilettanten bezeichnet. Nur ganz wenige Kritiker haben unsere Machart als neuen Stil erkannt. Wir fühlten uns als Pioniere einer neuen Art Dokumentarfilm.

Damals begann die Tradition der Schweizer Dokumentarfilme, die Mitte der Siebzigerjahre ihren Höhepunkt erreichte. Der Schweizer Dokumentarfilm wurde international zu einer Marke. An ausländischen Festivals grasten wir reihenweise Preise ab.

Wie haben Sie “Siamo Italiani” finanziert?

Das war ein Abenteuer. Rob Gnant und ich hatten zuvor einen Kurzfilm für die Schweizerische Verkehrszentrale gemacht, der in Cannes mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Dafür erhielten wir vom Bund eine der ersten Qualitätsprämien. Die 20’000 Franken bildeten dann die Grundlage für die technische Ausrüstung. Mein Vater hat mir einen Bankkredit garantiert und Rob Gnant verkaufte seinen Rennwagen. Als der Film fertig war, hatten wir beträchtliche Schulden.

Hatten sie Mühe den Film in die Kinos zu bringen?

Der Film ist nie gross ins Kino gekommen. Zwischen 1965 und 1969 lief er sporadisch in einigen grösseren und mittleren Städten. Es gab damals keinen Direktverleih, sondern ein striktes Kartell. Wir konnten den Film deshalb auch nie richtig lancieren. Ein jüdischer Verleiher von Pornofilmen fühlte sich mit Minderheiten solidarisch und nahm den Film in den Kommissionsverleih. So konnten wir das Kartell umgehen.

Die ARD zeigte den Film jedoch bereits 1965 in ihrem Dritten Programm. In der Schweiz lief der Film erst 1970 am Fernsehen.

Der Film ist bis heute legendär, aber offenbar haben ihn damals gar nicht viele Leute gesehen.

Über diesen Film wurden bedeutend mehr Wörter geschrieben als ihn Zuschauer im Kino gesehen haben. Dennoch hat er über die Presse eine ungeheure Wirkung gehabt und eine Diskussion ausgelöst.

Durch diesen Film haben die Schweizer die italienischen Gastarbeiter zum ersten Mal als Menschen wahrgenommen. Hat der Film dazu beigetragen, dass sich ihre Lage nach und nach verbesserte?

Der Film hat aufgerüttelt und dazu geführt, dass sich kirchliche Kreise und progressive Gewerkschafter für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen eingesetzt haben. Dazu hat der Film fraglos beigetragen.

Kann man durch Filme die Welt verbessern?

Nein, das glaube ich nicht. Man kann Denk-Anstösse für politische Veränderungen geben. Man kann das Bewusstsein wecken, aber man kann nicht durch Filme die Welt verändern, sowenig wie durch Romane und Gedichte. Natürlich können Bücher indirekt zu Veränderungen beitragen wie etwa die Romane von Nadine Gordimer in Südafrika.

40 Jahre nach “Siamo Italiani” haben Sie die Saisonniers von damals wieder aufgesucht und ihre Identitätsprobleme thematisiert. Die Machart von “Il vento di settembre” scheint gegenüber ihrem Vorgänger eher konventionell.

Die Kraft der Bilder bei “Siamo Italiani” ist eine Ausnahme-Erscheinung. Diese Expressivität ist eine formale Entsprechung der damals sehr angeheizten Situation. Es war wirklich eine Schwarzweiss-Welt. Diese Expressivität ist in unseren heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr möglich.

Die Kamera von Pio Corradi in “Il vento di settembre” ist ebenso gut, wie diejenige von Gnant in “Siamo Italiani”, aber sie ist selbstverständlich weniger expressiv. Die Anklage von “Siamo Italiani” ist bildlich umgesetzt. “Il vento di settembre” hingegen ist sehr subtil fotografiert. Es ging darum, unter die Oberfläche der so genannten Integration zu gehen.

Ich wollte zeigen, dass auch die angeblich sehr integrierten Mitglieder der Zweiten Generation Identitätsprobleme haben, und dass sie für ihren Wohlstand einen Preis bezahlt haben. Und zwar nicht nur den Preis der harten Arbeit, sondern auch den Preis der zerrissenen Familien und der unsicheren Identität.

Diese Dinge liegen unter der Oberfläche. Im Film muss man versuchen via die Oberfläche unter die Oberfläche zu kommen. Direkt unter die Oberfläche gehen kann der Film nicht, das kann nur die Literatur. Einsicht kann im Film nur via Ansicht stattfinden.

swissinfo, Hansjörg Bolliger, Locarno

Alexander Seiler (1928) ist Mitbegründer des Schweizerischen Filmzentrums und der Solothurner Filmtage.

Siamo Italiani (1964) drehte Seiler zusammen mit Rob Gnant und June Kovach.

Er schildert die diskriminierenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der italienischen Gastarbeiter in der Schweiz.

Il vento di settembre (2002) nimmt den Faden fast 40 Jahre später wieder auf.

Die einstigen Saisoniers leben in grossen Häusern in ihrer italienischen Heimat. Ihre Kinder und Enkel wohnen in der Schweiz oder in Italien.

Doch wo sie wirklich zu Hause sind, weiss keiner von ihnen.

Zwischen 1965 und 2002 wurde “Siamo Italiani” in Italien nur dreimal gezeigt. Alle Versuche, ihn im italienischen Fernsehen unterzubringen, sind gescheitert.

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