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«Wir werden kein Museumsdorf»

Das unter Heimatschutz stehende Bosco Gurin. picswiss.ch

Das kleine Tessiner Walserdorf Bosco Gurin hat in den letzten Jahren viel in den Fremdenverkehr investiert und neue Arbeitsplätze geschaffen. Doch Neuzuzüger hat das 80-Seelen-Dorf nicht gefunden.

Ein Augenschein zum 750-Jahr-Jubiläum der Walser-Gemeinde, die Unesco-Welterbe werden könnte.

Die Strasse endet am Dorfeingang direkt vor dem Hotel Walser. Auf 1503 Metern über Meer und nach 18 kurvigen Fahrkilometern vom Maggiatal kommt es für Besucher zum ersten Kontakt mit Bosco Gurin: Einer Ticket-Schranke wie in einer städtischen Parkgarage – momentan wegen «bürokratischer Probleme» allerdings ausser Betrieb.

Gleich neben dem modernen Hotel Walser steht die patriziatseigene Osteria delle Alpi. Bei den Touristen ist die Beiz beliebt, für die Einheimischen ist sie ganzjähriger Treffpunkt. Ein idealer Ort zum Dorfklatsch. Alle kennen sich hier, alle sind per Du. Bei weniger als 80 ständigen Einwohnern kein Problem.

Im Restaurant führt Bruno Steiner das Zepter. Seine Hausspezialität: Kuttelsuppe. Vor 10 Jahren kam er als «Auswärtiger» von Luzern nach Bosco, wie die Ortschaft im Tessin genannt wird, beziehungsweise nach Gurin, wie sie die Einheimischen nennen, um ihre deutschsprachigen Wurzeln zu unterstreichen.

Tote Zeiten nach dem Trubel

«Ich habe es nie bereut, es ist wie daheim, alles sehr familiär», schwärmt Steiner. Und man nimmt es ihm ab. Auch die langen Winter habe er lieben gelernt, obwohl Bosco in der kalten Jahreszeit über Monate in einem Schattenloch liegt. «Bei so vielen Gästen im Sommer hat man die toten Zeiten wieder ganz gern», sagt er mit verschmitztem Blick.

Nur wenige Meter nach der Osteria beginnt der alte, unter Heimatschutz gestellte Ortskern. Unzählige Male hat man dieses malerische Bild auf Postkarten abgelichtet und in Reiseführern festgehalten. Der Baustil der Häuser erinnert an die ursprüngliche Heimat der Bewohner: das Wallis.

In der Mitte thront die Pfarrkirche St. Jakobus und Christophorus, daran grenzt der Friedhof mit seinen einfachen Holzkreuzen. Die Namen spiegeln bis heute die deutschen Wurzeln der zwangs-italisierten Guriner. Della Pietra, vormals Zumstein, oder Sartori, früher Schneider.

Es gibt fast alles, was man braucht



Die Weihe der Kirche erfolgte im Jahr 1253. Dies ist der Grund, warum man dieses Jahr das 750-Jahr-Jubiläum feiert. Ganze 420 Einwohner zählte Bosco Gurin in seinen besten Zeiten. Das war 1858. Seither ist die Zahl der Einwohner kontinuierlich gesunken. 80 Seelen sind als Dauerbewohner heute noch registriert.

Von einem langsamen Aussterben Boscos will hier aber niemand etwas wissen. Immerhin hat das Dorf noch vieles, was andere helvetische Bergdörfer längst nicht mehr haben: Eine eigene Post, eine Bank, eine Bäckerei, einen Coop-Laden sowie zwei Hotels, drei Restaurants, eine Jugendherberge, und – nicht zu vergessen – einen Priester, den 87-jährigen Don Carlo Piffer.

Doch vor einem Jahr hat die Dorfschule geschlossen. Die drei Kinder im Primarschulalter müssen seither mit dem Bus ins weit entfernte Cevio fahren, genauso wie ihre Kameraden der Oberstufe. Der Mangel an Nachwuchs ist eine Tatsache. Drei Jahre liegt die letzte Geburt in Bosco Gurin zurück.

Schlimmere Zeiten erlebt

Posthalter Walter Della Pietra hält trotzdem nichts von Schwarzmalerei. Er rechnet vor, dass die Zahl der Einwohner nicht gestiegen sei, sich das Durchschnittsalter der Verbliebenen aber verjüngt habe. Bosco habe schlimmere Zeiten durchgemacht, sagt der angehende Pensionär und erinnert an die eigenen Erfahrungen. Er musste als junger Mann in die Deutsche Schweiz emigrieren, bevor er Anfang der 70er Jahre die staatliche Stelle bei den damaligen PTT-Betrieben ergatterte.

In den letzten Jahren wurde in Bosco Gurin einiges getan, um dem Dorf eine Zukunft zu geben. Das Zauberwort lautet Tourismus, vor allem Wintertourismus. Mit massiver Hilfe durch die öffentliche Hand entstanden unter dem Namen «Bosco 2000» ein Hotel, eine Jugendherberge, ein moderner Sessellift mit Mittelstation und Bergrestaurant. Investitions-Volumen: Rund 25 Mio. Franken.

Das Skigebiet Grossalp führt jetzt bis auf 2400 Meter Höhe. 40 Kilometer zählen die Pisten. Bei guter Schneelage, wie im letzten Winter, zieht es täglich Tausende von Gästen an, die aus dem Tessin und der angrenzenden Lombardei stammen. Die Kehrseite der Medaille: Bosco wird dann von Autos überflutet, die sich vom Maggiatal die enge Bergstrasse hinaufwinden. Denn die Gäste sind vornehmlich Tagesausflügler.

Es fehlen Zuzüger

Ein weiteres Problem: Jeder zweite Winter auf der Alpensüdseite ist inzwischen schneearm. Skifahren und Snowboarden fällt dann flach – Touristen bleiben aus. Deswegen will man jetzt einen «Bosco Manager», der Marketing und Angebot auch für schneearme Zeiten professionalisieren soll.

Ein Hauptproblem bleibt aber, dass die neuen Infrastrukturen keine neuen Bewohner gebracht haben. Es sind vor allem auswärtige Saisonarbeitskräfte, die einmal in Bosco Gurin Erfahrungen sammeln wollen. Oder Tessiner, die – in Umkehrung alter Gewohnheiten- vom Talgrund mit dem Auto in den hoch gelegenen Ort zur Arbeit pendeln.

Diese Situation nährt Ängste bei einigen Bewohnern, dass Bosco Gurin dereinst zu einem Museums- und Freizeitdorf mit wenig domizilierten Familien mutiert. Patriziatspräsident und Ex-Sindaco Alberto Tomamichel will nichts von dieser Idee wissen. «Wir werden kein Museumsdorf», sagt er mit Bestimmtheit. Deswegen habe die Bürgermeinde auch das Haus mit dem Coop-Laden gekauft, der in Kürze schliessen wird. «Wir wollen irgendwie weiterhin einen Laden betreiben.»

Der forcierte touristische Ausbau von Bosco Gurin war und ist nicht unumstritten. Die Frage ist vor allem, wo die Grenzen einer touristischen Nutzung für das schmucke Bergdörfchen sind. «Wie sich diese Investitionen auf die alte Kultur und das Walserdorf auswirken werden, muss die Zukunft zeigen.

Sicher ist es, dass einige Alteingesessene das Gefühl bekommen haben, von auswärtigen Leuten überfahren zu werden. «Das stille Bergtal ist lauter geworden und trotzdem hat das Dorf seinen Charakter behalten», heisst es in einer Broschüre des Walsermuseums.

Gerhard Lob, Bosco Gurin

Bosco Gurin
Gründungsjahr: 1244
Einwohner: heute ca. 80
Max. Einwohnerzahl: 420 (1858)
Höchstgelegene Gemeinde im Tessin: 1503 Meter ü.M. in einem Seitenast (Valle Bosco) des Maggiatals

Zu seinen besten Zeiten zur Mitte des 19. Jahrhunderts zählte das Dorf Bosco Gurin, die hoch gelegene Walsergemeinde im Tessin, 420 Einwohner. Heute sind es noch zirka 80.

Obwohl die Guriner mit Nachwuchs-Problemen kämpfen und die Dorfschule bereits ihre Pforten schliessen musste, will niemand etwas vom Aussterben wissen.

Die Gemeinde, die wegen der Verwendung von Guriner-Deutsch lange als deutsch-sprachige Enklave im Tessin galt, hat in den letzten Jahren massiv in touristische Infrastrukturen investiert.

Doch über die Grenzen der touristischen Nutzung ist ein Streit entbrannt.

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