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Fabian Molina: “Es braucht nicht nur Grenzschutz, sondern auch legale Fluchtrouten”

Fabian Molina im Parlament
"Eines von beidem zu tun, ohne das andere, ist keine solidarische Position", sagt SP-Nationalrat Fabian Molina. Keystone / Anthony Anex

Am 15. Mai kommt das Frontex-Referendum an die Urne. SP-Nationalrat Fabian Molina spricht sich gegen die Erhöhung des Schweizer Beitrags für Frontex in dieser Form aus. Die Vorlage müsse überarbeitet werden, sagt er im Interview.

Als assoziiertes Mitglied im Schengen-Raum beteiligt sich die Schweiz an der Finanzierung von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Das Budget der Agentur wurde erhöht, was auch eine Erhöhung des Schweizer Beitrags von 24 Millionen auf 61 Millionen Franken jährlich bedeuten würde. Die Vereinigung Migrant Solidarity Network und weitere Organisationen haben dagegen das Referendum ergriffen.

Worum es beim Frontex-Referendum geht, können Sie in unserer Übersicht lesen:

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Fabian Molina ist SP-Nationalrat aus Zürich. Die sozialdemokratische Partei unterstützt gemeinsam mit den Grünen das Referendum. Molina weist darauf hin, dass die Agentur in den letzten Jahren massiv in die Kritik geraten ist und verlangt eine Verknüpfung von Grenzschutz und dem Ausbau des Resettlements in der Schweiz.

swissinfo.ch: Russland ist in der Ukraine eingefallen, die Schweiz und die EU haben Gespräche über die künftigen Beziehungen aufgenommen. Der Moment für die Abstimmung ist wohl etwas unglücklich?

Fabian Molina: Angesichts der gewaltigen Solidarität, die wir momentan mit Geflüchteten aus der Ukraine erleben, ist es der richtige Zeitpunkt, um die Verantwortung der Schweiz in einem künftigen Europa zu diskutieren. Bei dieser Abstimmung geht es ja darum: Will die Schweiz mehr Geld für die EU-Grenzschutzagentur bezahlen, ohne gleichzeitig auch legale Fluchtrouten zu schaffen? Oder wollen wir die Umsetzung von Bundesrat und Parlament dieser Schengen-Verordnung zurück an den Absender schicken?

Das Referendumskomitee spricht sich allerdings klar für die Abschaffung von Frontex aus. Ist es auch die Position der SP, die das Referendum unterstützt?

Ob Frontex abgeschafft werden soll oder nicht, kann man lange diskutieren – und es gibt gute Argumente sowohl dafür wie auch dagegen. Aber darum geht es nicht bei dieser Abstimmung. Es geht darum, ob die Schweiz den Bundesbeschluss zur Finanzierung von Frontex so annehmen will oder nicht.

Die SP steht klar zu Schengen, aber wir sagen: Es braucht nicht nur Grenzschutz, sondern auch legale Fluchtrouten. Das gehört zusammen, damit weniger Menschen den gefährlichen Weg übers Mittelmeer überhaupt auf sich nehmen müssen.

Gegner:innen des Referendums sagen nun, dass bei einer Annahme die Schweiz automatisch aus dem Schengen-Dublin-Vertrag rausschlittern würde. Sehen Sie das anders?

Das ist Panikmache und stimmt überhaupt nicht. Es gibt keinen Automatismus in Schengen-Vertrag. Wichtig ist, was der Bundesrat der EU-Kommission meldet. Der Bundesrat kann nicht melden, dass die Schweiz eine Schengen-Weiterentwicklung nicht übernehmen will, ohne noch einmal das Parlament zu befragen. Und das Parlament steht klar zu Schengen.

Die SP hat im Ständerat bereits einen Gegenvorschlag deponiert, wie es nach einer gewonnenen Abstimmung weitergehen könnte: Dass wir nämlich unseren Beitrag an den Grenzschutz der gemeinsamen Aussengrenze bezahlen, aber gleichzeitig auch mehr Geflüchtete aufnehmen. Eines von beidem zu tun, ohne das andere, ist keine solidarische Position.

Die Schweiz ist schon heute im Verwaltungsrat von Frontex vertreten. Was für einen Einfluss haben wir effektiv?

Es ist wichtig, dass die Schweiz bei Frontex dabeibleibt, um diese Institution zu verbessern, die mit Vorwürfen von schwersten Menschenrechtsverletzungen konfrontiert ist. Was der Bundesrat genau macht im Verwaltungsrat, ist aber völlig unklar. Bisher hatte man jedenfalls überhaupt nicht den Eindruck, dass sich die Schweiz als besonders aktives Mitglied hervortut.

Wenn man nun die Zahlungen an Frontex massiv erhöht, dann erwarte ich, dass die Schweiz ihre Verantwortung wahrnimmt, sich klar gegen Pushbacks engagiert, eine Reform dieser Agentur einfordert und eben dafür sorgt, dass Menschen gar nicht mehr den gefährlichen Weg übers Mittelmeer auf sich nehmen müssen – sondern über Resettlement-Kontingente des UN-Flüchtlingshilfswerks legale Einreisemöglichkeiten in die Schweiz bekommen.

Das Europäische Parlament will die Frontex Rechnung für das Jahr 2022 nicht genehmigen. Grund sind Vorwürfe von der Antibetrugsbehörde Olaf. Ein Zeichen für den Zustand der europäischen Asylpolitik?

Die europäische Asylpolitik hat in den letzten Jahren einseitig auf Abschottung gesetzt und damit das Recht auf Asyl, das in der Genfer Flüchtlingskonvention verankert ist, massiv geschwächt. Das Recht auf Asyl bedeutet, dass jeder schutzbedürftige Mensch einen Asylantrag in jedem Land stellen kann und dass dieser Antrag individuell geprüft wird. Wenn die Leute an der EU-Aussengrenze kollektiv zurückgeschickt werden, wenn sie gar keinen Asylantrag mehr stellen können, dann ist das eine massive Menschenrechtsverletzung.

Natürlich braucht es einen Grenzschutz, der aber Menschenrechts-basiert ist und es ermöglicht, einen Antrag stellen zu können. Und gleichzeitig braucht es die Möglichkeit, dass besonders verletzliche Geflüchtete beispielsweise im Libanon vom UNO-Flüchtlingshilfswerk geprüft würden, und – wenn sie effektiv Anspruch auf Schutz haben – auch nach Europa kommen können.

Es gab mehrfach Aufrufe des UNHCR, solche Geflüchtete via Resettlement aufzunehmen, wobei sich verschiedene europäische Staaten beteiligt haben. Die Schweiz nicht. Die Schweiz ist hier nicht solidarisch.

Ihre Partei bringt das Thema des Resettlement-Ausbaus immer wieder ins Parlament, kommt aber damit nicht durch. Warum nicht?

Bisher haben sich SVP, FDP und Mitte immer gewehrt gegen einen Ausbau der Resettlement-Kontingente. Bei dieser Frontex-Vorlage ist es im Ständerat zum ersten Mal beinahe gelungen, Grenzschutz und legale Fluchtrouten zu verknüpfen. Der Nationalrat wollte dann davon aber nichts wissen.

Deshalb ist dieses Referendum so wichtig, weil wir klar machen können, dass zu einer europäischen, solidarischen Schweiz eben beides gehört: Grenzschutz und legale Fluchtrouten.

Pushbacks an den europäischen Aussengrenzen sind hinlänglich dokumentiert, diese geschehen jedoch durch nationale Behörden. Setzt sich die Schweiz im bilateralen Rahmen mit europäischen Staaten genug für die Einhaltung von Menschenrechten ein?

Ich war zweimal auf der griechischen Insel Lesbos, habe mir das grösste Flüchtlingslager Europas Moria angesehen, war an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien. Die Erlebnisse, die man da geschildert bekommt, über Pushbacks, über die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen Menschen über Jahre hausen müssen: Das ist empörend.

Natürlich spielen die Anrainerstaaten und die nationalen Sicherheitsbehörden eine furchtbare Rolle. Aber Frontex tut nichts, um die Situation zu verbessern. Im Gegenteil, es gibt Berichte, wie sie das deckt oder sogar unterstützt. Die Schweiz hat diesem Thema bisher nicht besonders viel Gewicht beigemessen. Das muss sich ganz grundsätzlich ändern.

Die Aufstockung von Frontex sieht auch den Ausbau des Grundrechtsschutzes von Migrant:innen vor. Genügt das?

Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber offenbar denkt man auch in Brüssel, dass es nicht genügt – sonst hätte man die Gelder nicht blockiert. Es braucht eben beides: Eine reformierte Asylpolitik in Europa, die darauf setzt, dass die Geflüchteten solidarisch von allen Schengen-Mitgliedsstaaten aufgenommen werden und die Verantwortung nicht bei den Ländern an den Aussengrenzen liegt.

Und gleichzeitig – bis es so weit ist – sollen alle Staaten entsprechend ihrer Möglichkeiten bereits jetzt Menschen via Resettlement Schutz gewähren, wie das Schweden, Luxemburg oder Deutschland tun.

Frontex-Chef Fabrice Leggeri wird persönlich scharf kritisiert, die Untersuchungen gegen seine Agentur zu obstruieren. Ist er weiterhin tragbar?

Nach allem was wir wissen, ist Fabrice Leggeri nicht mehr tragbar. Das Problem ist, dass Frontex die Publikation dieses Olaf-Bericht bis heute verhindert. Wir wissen auch nicht, welche Position der Bundesrat in dieser Frage vertritt.

Ich finde es jedenfalls unverantwortlich, für den Beitragszeitraum bis 2027 300 Millionen Franken mehr an eine Behörde zu zahlen, von der wir wissen, dass sie heute schon nicht richtig funktioniert, dass sie Menschenrechtsverletzungen begeht und dass sie einen Chef hat, der dieses Verhalten deckt.

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