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Religiöses boomt trotz leeren Kirchen

Kirche und Politik - nicht immer einer Meinung. swissinfo.ch

Religiöse Werte haben für viele Menschen in Zeiten der Unsicherheit wieder mehr Bedeutung. Ein Trend, der auch in der Schweiz zu beobachten ist.

Nun melden sich die Kirchen vermehrt in der Politik zu Wort. Sie setzen sich ein für eine menschliche Gesellschaft.

Das öffentliche Leiden und der Tod von Papst Johannes Paul II. haben die katholische Kirche weltweit zu einem regelrechten Magneten werden lassen. Plötzlich waren Millionen begeistert und feierten den Pontifex wie einen Popstar.

Auch die Wahl des umstrittenen Kardinals Joseph Ratzinger zum neuen Papst vermochte die neu erwachte Begeisterung für das Religiöse kaum zu bremsen. Religion ist wieder in.

Wertewandel schafft Zulauf

Gerade in Zeiten grosser Unsicherheit und sich ändernder Wertvorstellungen suchen viele Menschen vermehrt Zuflucht in religiösen Werten. Dies entgegen dem Trend, dass die Kirchen immer weniger Mitglieder zählen.

“In solchen Situationen findet immer eine Rückbesinnung statt auf Werte, die eigentlich der Tradition angehören”, sagt Karénina Kollmar-Paulenz, Leiterin des Instituts für Religionswissenschaft an der Universität Bern, gegenüber swissinfo.

“Das hängt wiederum mit allgemeinen Globalisierungs-Prozessen zusammen, wo die Einzelnen die überschaubaren, lokalen Verhältnisse ein bisschen aus den Augen verlieren.”

Einfluss auf die Politik

In den USA nehmen religiöse Gemeinschaften spätestens seit der zweiten Bush-Ära wieder vermehrt Einfluss auf die Politik. Dies direkt über den Präsidenten, der oft mit der Bibel in der Hand politisiert. Nicht von ungefähr wird heute oft vom “evangelischen Amerika” gesprochen.

“Es kann sein, dass dieser Politik-Stil, der zur Legitimierung politischer Vorgehensweisen religiöse Muster bemüht, sich nach einer Weile hier in Europa durchsetzt”, vermutet Kollmar-Paulenz.

Zur Zeit reagierten die Schweizer Bürgerinnen und Bürger allerdings noch “eher mit Erstaunen auf die religiöse Rhetorik von Herrn Bush”.

Thema auch in der Schweiz

Die Diskussion um die Trennung von Kirche und Staat ist nicht erst seit der Aufklärung ein brennendes Thema. Aus ihr heraus ist die Idee der Gewaltentrennung gekommen, die heute in vielen Staaten praktiziert wird. So auch in der Schweiz.

Spätestens jedoch seit der Churer Weihbischof Peter Henrici die Schweizerische Volkspartei (SVP) wegen ihrer Asylpolitik öffentlich als “einzige Partei, die ein guter Christ nicht wählen kann” bezeichnet hat, ist die Debatte um den Einfluss der Kirche auf die Politik auch in der Schweiz wieder lanciert.

Unterstützung erhielt Henrici kurz darauf von Bundesrat Pascal Couchepin. An einer Fachtagung der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) zum Thema “Die Rückkehr des Religiösen: Herausforderung für die liberale Gesellschaft?” erklärte er, er habe als Christ “grosse Probleme, die Politik der SVP mit meinem Glauben zu vereinbaren”.

Dass die Religion einen Einfluss auf die öffentliche Diskussion ausübt, ist nicht neu, wie Kollmar-Paulenz beobachtet hat: “Die Religion drängt meines Erachtens wieder in den öffentlichen Raum zurück, und zwar seit den 70er-Jahren.”

Erstarken christlicher Werte

In den letzten Jahren allerdings sei zusätzlich “ein Erstarken des christlichen Wertekonsens, der ja oft implizit vermittelt wird, zu beobachten”. Als Beispiel nennt Kollmar-Paulenz den Zuwachs an Wählerstimmen für die Evangelische Volkspartei (EVP) bei den letzten nationalen Wahlen.

Eine Beobachtung, die auch Pfarrer Thomas Wipf, Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) in seiner Arbeit gemacht hat. “Wir werden mehr gefragt, mehr in Anspruch genommen”, sagt er gegenüber swissinfo.

Er glaubt auch, dass das gestiegene Interesse an religiösen Werten mit dem Umbruch in der Gesellschaft zu tun hat. “Das Leben wurde stark ökonomisiert.” Daher hätten viele Menschen erkannt, “dass materielle Werte allein eben nicht genügen”. Sie suchten oft eine universale Religiosität mit keiner institutionellen Bindung.

Religionspolitik erwünscht

Wipf stellt jedoch gleich klar: “Wir wollen nicht Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben.” Aber: “Es braucht eine gegenseitige Wahrnehmung, dass sowohl Kirchen, Religionsgemeinschaften wie der Staat dieselben Ziele haben, nämlich eine menschliche Gesellschaft.”

Daher wünsche sich der SEK eine staatliche Religionspolitik. Der Kirchenbund möchte einen “Schweizerischen Rat der Religionen” schaffen, der eine Plattform innerhalb der grossen Religionsgemeinschaften und Ansprechpartner für die Bundesbehörden sein könnte.

Auch Bundesrat Couchepin spricht sich für einen Laizismus (Trennung von Kirche und Staat) aus, der offen für Religiöses ist. “Die Rückkehr des Religiösen ist keine Gefahr. Sie ist eine Chance, wenn getrennt wird, was getrennt werden muss.”

swissinfo, Christian Raaflaub

Anteil evangelisch-reformierte Kirche an der Bevölkerung:
1970: 46%
2000: 33%
Anteil römisch-katholische Kirche an der Bevölkerung:
1970: 49%
2000: 42%
Anteil Religionslose an der Bevölkerung:
1970: 1%
2000: 11%
(Quelle: Volkszählungen 1970 und 2000)

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