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Späte Anerkennung der Schweiz zu Rousseaus 300.

swissinfo.ch

Der 28. Juni markiert den Höhepunkt der Feiern um den Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau, bei denen die Schweiz führend ist. Eine späte, aber logische offizielle Anerkennung, zumal er als Schriftsteller viel zum Image der Schweiz beigetragen hat.

Die Veranstaltungen zum Jubiläum von Rousseau, geboren am 28. Juni 1712 in Genf, sind durch ihre Anzahl und Vielfalt ein Zeichen des lebendigen Interesses, das immer noch um diesen Genfer Philosophen des 18. Jahrhunderts besteht.

“Die Person und ihr Werk überzeugen. Wer sonst könnte Anlass geben zu einer derartigen Vielfalt von kulturellen Veranstaltungen?”, fragt Yvette Jaggi, ehemalige Chefin der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und eine begeisterte Leserin des Philosophen.

Ein weiterer Fan, der Journalist und ehemalige Direktor des Fernsehens der französischsprachigen Schweiz, Guillaume Chenevière, unterstreicht: “Es ist das erste Mal, dass die Schweiz Rousseau generell als Teil ihres Erbes anerkennt. Die Botschaften haben überall auf der Welt Rousseau-Veranstaltungen organisiert. Für mich eine Überraschung.”

Dies bestätigt auch der Forscher Tanguy L’Aminot vom Pariser Centre national de la recherche scientifique (CNRS): “Die Feiern sind ein Schweizer Produkt; 2007 hat Genf eine Anfrage eingereicht, um die Leitung der Feiern zum 300. Geburtstag zu übernehmen. Das passt allen, besonders den Franzosen”, präzisiert der Gründer des Magazins “Etudes Jean-Jacques Rousseau” in einer Beilage der französischen Zeitung Le Monde.

Die Schaffung eines Mythos

Als neuste Geste der Anerkennung durch die Schweiz hat das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein Buch über Rousseau und die Schweiz herausgegeben.

Im Vorwort schreibt Aussenminister Didier Burkhalter: “Während seinen Lebzeiten durch die Schweizer und die Franzosen schikaniert, die heute auf sein Erbe Anspruch erheben, erweist sich Jean-Jacques Rousseau 300 Jahre nach seiner Geburt wie ein Wegbereiter der modernen Schweiz, der zuallererst durch seine Kreativität und seinen innovativen Geist glänzt.”

Diese überfällige Anerkennung durch die Schweiz mag spät erscheinen, zumal Rousseau das Image der Schweiz im 18. Jahrhundert in ganz Europa popularisiert hat, besonders mit seinem Bestseller “Julie oder Die neue Héloïse”, einem Briefroman von 1761.

Im 28. Brief zeichnet Rousseau darin beispielsweise ein idyllisches Bild der Walliser Bergbevölkerung. “Er erzählt, dass es im Wallis kaum Geld gebe, dass sich die Bewohner des Tals gerade deshalb aber wohl fühlten, auch weil es genügend Nahrung gebe und die Feldarbeit ein Vergnügen sei”, sagt der Walliser Historiker und Journalist Gérard Delaloye.

Die Realität sei aber weniger rosig gewesen, unterstreicht Delaloye: “Während der gesamten Zeit des Ancien Regime (1712–1798) mussten die Bauernfamilien ihre Kinder auf den Schlachtfeldern Europas gegen Geld massakrieren lassen.”

Image der Schweiz

In seinem Briefwechsel mit Charles François de Montmorency, einem seiner Beschützer, präzisiert Rousseau seine Vision der Schweiz: “Die ganze Schweiz ist wie eine grosse Stadt, aufgeteilt in dreizehn Quartiere, von denen die einen in Tälern sind, andere auf Anhöhen und noch andere auf Bergen. (…) Man glaubt nicht mehr, Einöden zu durchqueren, wenn man Kirchtürme zwischen den Tannen findet, Viehherden auf den Felsen, Fabriken in den Abgründen, Werkstätten auf den Bächen.”

Indem er so die Eidgenossenschaft der 13 Kantone (1481-1789) ironisiert, verstärkt Rousseau sogar die Schwärmerei, die in Europa für das kleine Alpenland entstanden war.

Ab dem 18. Jahrhundert wird die Schweiz tatsächlich zu einer beliebten Tourismus-Destination. “Nach 1760 gehört die Schweiz zu jenen Orten, die man besucht”, schreibt Claude Reichler im Buch “Le voyage en Suisse”. “Genf, der Genfersee, das Berner Oberland, der Zürich- und der Vierwaldstättersee werden berühmt. (…) Etwa von 1780 bis 1840 wird dies fast zur Sucht: Schriftsteller, Maler, Musiker, Adelige, neureiche Bürgerliche – sie alle kamen in die Schweiz.”

Die Attraktivität der Schweizer Bergwelt erlaubte, dass sich im 19. Jahrhundert eine Tourismus-Industrie entwickeln konnte. Die Schweiz, immer industrieller, erfand ihre Folklore neu, um den Touristen ein traditionelles und idyllisches Bild des Landes zu bieten. Andererseits schaffte das Land, wie Gérard Delaloye zu bedenken gibt, technologische Höchstleistungen beim Bau von Hotels und Bahnen inmitten der Berge.

Politisch beeinflusst

“Tatsächlich hat die Schweiz Rousseau wenig gedankt, sie hat ihn sogar lange ignoriert. Rousseau hingegen hat die Schweiz als Modell bezeichnet”, sagt Guillaume Chenevière.

“Jean-Jacques hatte diese Vision der Schweiz als jenem Ort in der Welt, der die wilde Natur mit den menschlichen Aktivitäten am besten vereint hat”, schreibt er in seinem Buch “Rousseau, Eine Genfer Geschichte”.

Doch seine Verherrlichung der Natur ist nicht der einzige Grund, warum sich Rousseau für die Schweiz begeistert. Er erlebt einen Teil seiner Kindheit im beliebten Genfer Quartier Saint-Gervais, wo sein Vater ein Uhrmacher-Atelier betreibt, “in einem Milieu oppositioneller Aktivisten, die für ihre Rechte kämpften. Das hatte eine entscheidende Ausstrahlung auf sein späteres Werk”, schreibt Tanguy L’Aminot.

Dies bestätigt auch Chenevière: “Rousseau wurde sehr stark von der politischen Organisation Genfs und seiner Stadtgemeinde beeinflusst, die auf dem schweizerischen Modell der Landsgemeinde aufgebaut war, einer Organisationsform, die aus dem Bürger den obersten Souverän macht.”

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Landsgemeinde

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Landsgemeinde ist eine der ältesten und einfachsten Formen der Schweizer Direktdemokratie. Alle Wahl- und Stimmfähigen eines Kantons versammeln sich einmal jährlich unter freiem Himmel zur Wahl der Regierung (Appenzell Innerrhoden) und zur Verfassungs- und Gesetzgebung oder Festsetzung des Steuerfusses (Appenzell Innerrhoden und Glarus). Sie tun dies durch Aufheben der Hand oder des Stimmrechtsausweises. Diese…

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Wird der Philosoph des Lichts durch derart viele Würdigungen und Vereinnahmungen nicht “mumifiziert”? Bestimmt nicht, antwortet Christian Delécraz, Kurator der Ausstellung “C’est de l’homme que j’ai à parler. Rousseau et l’inégalité” des Genfer Völkerkundemuseums (Musée d’ethnographie de Genève).

In Zeiten, wo sich die Ungleichheiten erneut zeigten, wo die Mächte versuchten, Ländereien und Bodenschätze in Beschlag zu nehmen, könnte ein Ausspruch von Rousseau nicht aktueller sein, betont Christian Delécraz: “Die Früchte gehören allen, der Boden gehört niemandem.”

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und Präsenz Schweiz haben zum 300. Geburtstag des Genfer Philosophen ein Buch mit dem Titel “Jean-Jacques Rousseau et la Suisse” herausgegeben.

Ziel der Publikation ist es, “über die Auslandvertretungen ein breites Publikum mit der Modernität und der ‘Swissness’ von Rousseaus Denken vertraut zu machen”, wie das EDA in einer Medienmitteilung schreibt. Das kleine Buch soll “das positive Bild der Schweiz im Ausland fördern”.

“Jean-Jacques Rousseau et la Suisse” wird vom Genfer Verlag Slatkine herausgegeben, der zur Dreihundertjahrfeier auch das Gesamtwerk Rousseaus (24 Bände) neu ediert hat.

(Übertragung und Adaption aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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