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Schweizer Doppelvertretung am Filmfestival Cannes

Reuters/Eric Gaillard

Am 65. Festival von Cannes, das am Mittwoch beginnt, ist die Schweiz mit zwei völlig unterschiedlichen Filmen vertreten. Aber beide zeugten von der grossen Freiheit und Eigenständigkeit des Schweizer Films, sagt der Programmleiter Edouard Waintrop.

Sowohl Nicolas Wadimoffs Spielfilm “Opération Libertad” als auch Basil da Cunhas Kurzfilm “Les vivants pleurent aussi” sind in der Sektion La Quinzaine des Réalisateurs programmiert.

Diese Schau, zusammengestellt von der Société des Réalisateurs de Films, der Vereinigung der Regisseure, stellt einem cinéphilen Publikum talentierte, junge Filmemacher vor, präsentiert aber auch neue Werke von bekannten Grössen.

Mit “Opération Libertad” und “Les vivants pleurent aussi” ist die Schweiz an der Riviera zudem zum dritten Jahr in Folge in der Reihe La Quinzaine des Réalisateurs dabei.

2010 schaffte es Jean-Stéphane Bron mit “Cleveland contre Wall Street” auf das internationale Sprungbrett. 2011 war es auch schon Basil da Cunha, ein 26-jähriger Genfer mit portugiesischen Wurzeln, der die Farben der Schweiz in Cannes vertrat. Damals mit dem Kurzfilm “Nuvem-Le Poisson Lune”.

Viel Ehre

Die nun bereits dreijährige Präsenz der Schweiz am bedeutendsten Filmfestival der Welt ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. “Sie ist aber gerechtfertigt, denn die Schweiz verfügt über eines der eigenständigsten Filmschaffen Europas”, sagt Edouard Waintrop, Leiter der Reihe La Quinzaine des Réalisateurs.

Der Franzose ist nicht nur ein profunder Kenner der Schweizer Filmszene, sein Urteil gilt auch international etwas. Waintrop war früher Leiter des Internationalen Filmfestivals von Freiburg i. Ue. (FIFF) sowie Filmkritiker der französischen Zeitung Libération. Gegenwärtig leitet der umtriebige Filmbesessene die Kinos im Genfer Kulturzentrum Grütli.

“Tanner ist Tanner, Goretta ist Goretta, sie lassen sich unmöglich einer Strömung zuordnen”, sagt er. Die beiden Grössen des Schweizer Films zeichneten sich durch eine freie Geisteshaltung aus. Dasselbe gilt laut Waintrop auch für Nicolas Wadimoff, der aufgrund seiner Unverfrorenheit an Tanner erinnere.

“Dies sehen auch die Verantwortlichen in Cannes so, die das Filmschaffen der französisch-sprachigen Schweiz möglichweise stärker wahrnehmen als jenes der deutschsprachigen Schweiz”, sagt Edouard Waintrop.

Nicolas Wadimoff hat sich mit Werken wie “Clandestins” und “Still Alive in Gaza” über die Schweiz hinaus einen Namen geschaffen. Für seinen Film über Bewohner an diesem politischen Brennpunkt der Weltpolitik gewann der 48-jährige Genfer mehrere internationale Preise.

In Cannes feiert nun sein Spielfilm “Opération Libertad” Weltpremiere. Wadimoff entstammt dem politischen Kino, das auch sein neuestes Werk prägt. Darin nehmen der Regisseur und sein Drehbuchautor Jacob Berger die Geschichte der Aktivisten der revolutionären Linke in der Schweiz der 1970er-Jahre auf. Ihr Film stützt sich auf lange Recherchen und zahlreiche Gespräche mit Exponenten der äussersten Linken.

Aus dem politischen Untergrund….

Schauplatz der fiktiven Handlung ist Zürich: Dort überfallen 1978 Kämpfer aus dem linksextremen Untergrund eine Grossbank. Auf deren Konten lagern die Millionen, die einer der schlimmsten Diktatoren Lateinamerikas ausser Landes geschafft hatte. Das Besondere: Die Bankräuber filmen den Überfall in voller Länge. 30 Jahre später tauchen die Aufnahmen auf…

Thema des Films sei aber nicht das Schweizer Finanzsystem jener Zeit, sondern die direkte Aktion und der politische Kampf, sagt Nicolas Wadimoff. “In den 1970er-Jahren gab es in der Schweiz politische Aktivisten, die in Kontakt zur Roten Armee Fraktion (RAF) in Deutschland und zu den Roten Brigaden in Italien standen. Um sie dreht sich mein Film. Ich hinterfrage ihre Motivation und ihre Absichten, und das vor dem Hintergrund der Bank.”

Die entscheidende Frage laute: Muss man einen Preis zahlen, wenn man zum revolutionärer Kämpfer wird? Wadimoff bejaht eindeutig und hofft, mit seinem Film eine Debatte anzustossen.

“Opération Libertad” sei aber kein parteilicher Film, stellt der Autor klar. “Wenn ich von der Schweiz spreche, geht es auch um ihre Fähigkeit, Skandale mit grossem Geschick zu bewältigen und unbeschadet davon zu kommen. Ich nenne diese Fähigkeit die Kunst des Balanceaktes.”

Wadimoff treibe die Karikatur bis zum bitteren Ende, sagt Edouard Waintrop. “Im Film funktioniert das Krisenmanagement der Schweiz deshalb, weil ihr Sicherheitssystem auf Schweigen basiert: Die Bank hat kein Interesse, mitzuteilen, dass sie Opfer eines Überfall durch politische Aktivisten geworden war. Diese sehen sich somit einem System gegenüber, das viel ausgefeilter ist als das ihre.”

…zum Traum

Kehrtwende um 180 Grad zu Basil da Cunha und seinem Stil, der auf Fantasie beruht. Im Mittelpunkt von “Les vivants pleurent aussi” (Auch die Lebenden weinen) steht Zé. Er träumt davon, sein bisheriges Leben als Arbeiter im Hafen von Lissabon hinter sich zu lassen und mit seinen kleinen Ersparnissen nach Schweden aufzubrechen.

Im Kurzfilm verwebt Basil da Cunha subtil Realität und Fabel. “Zé entflieht in den Traum, bleibt dabei aber konkret. Dabei schafft er für sich eine Magie, die einzigartig ist”, lobt Edouard Waintrop. Der Experte zählt den jungen Genfer zu den grössten Hoffnungen des aktuellen Films.

“Da Cunha ist zwar in der Schweiz aufgewachsen, aber er schöpft seine Inspiration aus Portugal. Mit seinem Kurzfilm steht er in Cannes zusammen mit Wadimoff für die Stilvielfalt im Schweizer Filmschaffen. Gleichzeitig zeugen ihre Filme aber von der grossen Geschlossenheit innerhalb dieser Stilrichtungen.”

Die 65. Filmfestspiele von Cannes dauern vom 16. bis 27 Mai 2012. Die Schweiz ist seit 1946 mit Regisseuren, Filmen und Ko-Produktionen an der Riviera präsent.

Schweizer Filme, die in Cannes ausgezeichnet wurden:

“In wechselndem Gefälle” von Alexander J. Seiler, Goldene Palme für den besten Kurzfilm 1963.

“L’Invitation” von Claude Goretta, Spezialpreis der Jury 1973.

“La Dentelière” von Claude Goretta, Preis der Ökumenischen Jury 1977.

Schweizer Filme, die in den letzten fünf Jahren in Cannes grosse Beachtung fanden:

“Le Créneau” von Frédéric Mermoud (2007), “Home” von Ursula Meier (2008), “Film Socialisme” von Jean-Luc Godard (2010) und “Cleveland contre Wall Street” von Jean-Stéphane Bron (2010).

Geboren 1964 in Genf. 1992 bis 1996 beim Westschweizer Fernsehen (TSR). Er dreht Filme u.a. in Libyen, Algerien, Palästina, Israel, Jemen und Ruanda.

Mitbegründer der Produktionsgesellschaft Caravane, deren Co-Leiter er bis 2002 ist.

Danach gründet er Akka films, die Dokumentarfilme und Langspielfilme produziert.

Geboren 1985. Studiert gegenwärtig an der Hochschule für Kunst und Design Genf (HEAD), Fachrichtung Film.

2008 dreht er den Kurzfilm “La loi du Talion”; Mitglied der Vereinigung Thera Production.

2010 ist sein Film “A côté” für den Schweizer Filmpreis nominiert.

2011 schafft er mit dem Kurzfilm “Nuvem-Le Poisson Lune” erstmals den Sprung ins Festivalprogramm von Cannes.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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