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Im Schatten des “grossen Nachbarn”

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Wie kann man die Beziehung der Westschweiz zu Frankreich und jene der Deutschschweiz zu Deutschland definieren? Die Palette zwischen Symbiose und Gereiztheit ist gross.

Jacques Pilet und Peter Rothenbühler, zwei führende Köpfe der helvetischen Presse, beantworten die Frage in historischer, kultureller, sprachlicher und wirtschaftlicher Hinsicht.

Rund 1,5 Millionen Personen leben in der Romandie. Über 60 Millionen in Frankreich. Ungefähr 4,6 Millionen Personen sind es in der Deutschschweiz, gegenüber 82 Millionen in Deutschland.

In Europa entsprechen West- und Deutschschweizer etwa den Liliputanern in Gullivers Reisen. Es ist aber nicht leicht, die Beziehungen zu definieren, die sie zu ihrem jeweiligen “grossen Nachbarn” haben.

In der Hoffnung, die Situation etwas zu entwirren, klopften wir bei zwei Persönlichkeiten des Schweizer Journalismus an, die sich gut ergänzen: Jacques Pilet, Gründer der Westschweizer Zeitungen l’Hebdo und Nouveau Quotidien, ein Romand, der in der Deutschschweiz arbeitet, und Peter Rothenbühler, Chef der Zeitung Le Matin, also ein Deutschschweizer in der Romandie.

Eine Geschichte in Bewegung

Zuerst äussert sich Peter Rothenbühler unter dem historischen Gesichtspunkt. “Die Deutschschweiz hatte wegen des Kriegs ein grosses Problem mit Deutschland. Lange Zeit wurde die deutsche Sprache mit dem deutschen Imperialismus, den Nazis in Verbindung gebracht. Deshalb musste eine defensive Haltung entwickelt werden. Aus diesem Grund hängen die Deutschschweizer auch so an ihrem Dialekt. Die Romands dagegen hatten nie ein gravierendes politisches Problem mit Frankreich. Sogar Napoleon brachte eher Positives!”

In der Deutschschweiz änderte sich die Situation. “Es ging lange, bis die Vorurteile verschwanden, es brauchte eine neue Generation”, stellt der Chef von Le Matin fest.

Und heute kommen massenhaft Deutsche in die Schweiz, um hier zu arbeiten, viele von ihnen in Kaderpositionen. Das geht so weit, dass die Boulevardzeitung ‚Der Blick’ den Rückwärtsgang einlegt und vor kurzem eine Serie zum Thema “Wie viele Deutsche erträgt die Schweiz?” lancierte.

Einstellung und Wirklichkeit

“Sowohl in der West- wie in der Deutschschweiz spricht man über die jeweiligen grossen Nachbarn in einer Art, die nicht immer mit den Tatsachen übereinstimmt”, stellt Jacques Pilet fest.

“In der Deutschschweiz geht man oft auf Distanz zu Deutschland, man kritisiert es, man bringt gerne die eigenen Eigenschaften ins Spiel, auf die man stolz ist, sicher zu Recht. Aber ich bin sehr erstaunt über den immer stärkeren Einfluss Deutschlands auf den Alltag, sogar auf die Mentalität in der Deutschschweiz”, so Pilet weiter.

Der Vormarsch der Deutschschweizer Dialekte in den letzten Jahrzehnten ist jedoch eine offenkundige Realität… “Zur Realität der Dialektwelle kommt eine weitere, nämlich die Realität des deutschen Einflusses, vor allem im intellektuellen Bereich”, stellt Pilet fest.

Auch in der Romandie gibt es eine Kluft zwischen Einstellung und Wirklichkeit. So zeigen die Romands ihren Unterschied zu Frankreich laut dem Ringier-Kadermann “nicht durch die Sprache, sondern durch einen manchmal ironischen Blick auf den Nachbarn. Man mokiert sich gerne über einige seiner Schwächen. Aber man ist und war immer sehr auf Frankreich ausgerichtet.”

Der Begriff “ausgerichtet” ist allerdings zu schwach. Die Romands schauen die französischen Fernsehprogramme, hören französische Chansons und französischen Rap, nehmen den TGV nach Paris, gehen in die Provence in die Ferien. Ausserdem lassen sich viele Französinnen und Franzosen in der Schweiz nieder.

“In der Westschweiz kennt jedes Kind Chirac, Sarkozy, Ségolène Royal, weil man die französischen Medien intensiv konsumiert und eine gefühlsbetontere direkte Beziehung hat zu Frankreich. Während Schröder durch Zürich spazieren könnte, und die Hälfte der Leute würden ihn nicht erkennen”, so Rothenbühler.

Minderheit oder Mehrheit – eine Frage des Standpunkts

In der Schweiz ist die Romandie gegenüber der Deutschschweiz in der Minderheit. Letztere ist aber auch nur ein Fliegengewicht im Verhältnis zum gesamten deutschsprachigen Raum Europas.

Der Unterschied zwischen Minderheit und Mehrheit drückt vielleicht eine Haltung aus: Anders als die Leute in der Deutschschweiz, die gesamteuropäisch an Macht verlieren, fühlen sich die Menschen in der Romandie mit Frankreich verwandt.

Diese Ansicht teilt Rothenbühler: “Ich bin überzeugt, dass es etwas in dieser Art ist. Und dass die Begeisterung der Romandie für Europa manchmal etwas naiv ist und auf der Tatsache beruht, dass sie sich lieber einer grossen Mehrheit in der Nähe von Paris und Brüssel anschliesst als immer mit der Deutschschweiz verbunden zu sein, wo ein echtes Kommunikationsproblem besteht.”

Die Mehrheit mache gewisse Leute in der Deutschschweiz manchmal etwas arrogant, insbesondere in Zürich. “Ein wenig wie es die Pariser gegenüber der Provinz sind”, fügt der Chefredaktor des Le Matin bei.

Missstimmung

Die Romands haben eindeutig eine enge Verbindung zu Frankreich. Trotzdem war in letzter Zeit auch eine gewisse Missstimmung gegenüber Frankreich festzustellen, zum Beispiel anlässlich der Fussballweltmeisterschaft oder der “Affäre” Montebourg-Hallyday… Eine Begleiterscheinung oder eine tiefer gehende Bewegung?

“Die Schweiz geht zurzeit durch eine nationalistische Phase. Es gibt eine Art neu erwachten patriotischen Feuers, das manchmal in Richtung Nationalismus geht, und zwar auf beiden Seiten der Saane”, stellt Pilet fest.

Er findet übrigens auch, dass sich das Bild Frankreichs in der Schweiz verändert hat. “Frankreich, das ist unsere Kultur. Aber wir sehen auch, dass die französische Kultur, die französische Sprache nicht mehr die gleiche Bedeutung haben wie früher, und unbewusst machen wir Frankreich den Vorwurf, seine internationale Ausstrahlung zu verlieren.”

Seltsames Paar

So schrieb Bundesrat Pascal Couchepin am 21. Januar in der Zeitung Matin Dimanche, nach einer Aussage des Sozialisten Arnaud Montebourg, zu den französisch-schweizerischen Beziehungen: “Wir sind wie ein altes Ehepaar, das gern ein wenig streitet.”

Das entlockt unseren Gesprächspartnern ein Lächeln, vor allem Jacques Pilet: “Ein altes Ehepaar, das sind zwei mehr oder weniger gleichberechtigte Partner. Wir aber verfolgen aufmerksam das grosse Theater der französischen Politik, während die Franzosen sich wenig für die Schweiz interessieren und sie sehr schlecht kennen. Dieses Ehepaar ist also doch eher ungleich”, stellt er fest.

Wir kennen alle den Witz von der Maus und dem Elefanten, die durch die Wüste gehen. Sagt die Maus zum Elefanten: “Hast du gesehen, wie viel Staub wir aufwirbeln?”

swissinfo, Bernard Léchot
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Peter Rothenbühler wurde 1948 in Pruntrut geboren. Er wuchs in der zweisprachigen Stadt Biel auf und zog als 20-Jähriger nach Zürich.

14 Jahre lang arbeitete er in einem unabhängigen Pressebüro (Bureau Cortesi). 11 Jahre stand er an der Spitze der Schweizer Illustrierten. Danach wurde er Programmdirektor der privaten Fernsehstation Tele24, bevor er wieder zu Ringier zurückkehrte.

2002 wird er Chefredaktor der Westschweizer Boulevardzeitung “Le Matin”.

Jacques Pilet wurde 1943 in La Tour de Peilz geboren. Schulen und Studien in Montreux, St. Maurice, Lausanne und Göttingen.

Er wurde Journalist bei 24 Heures, dann beim Westschweizer Fernsehen (Temps présent), wo er auch eine Sendung über Schweizer Politik produzierte (Tell Quell). 1981 gründete er L’Hebdo, 1991 lancierte er die Zeitung Le Nouveau quotidien.

1998 trat er, nach einiger Zeit in der Direktion von Edipresse, dem Direktorium von Ringier in Zürich bei. Heute ist er verantwortlich für Medienentwicklung. Er arbeitet regelmässig mit L’Hebdo, Cicero (Berlin) und dem Sonntagsblick zusammen.

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