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Schweizer Forschung am wilden Fluss

Der Fluss Tagliamento beim Austritt aus dem Alpenbogen bei Gemona. EAWAG

Der Tagliamento ist in Fachkreisen weltberühmt. Schweizer Forscher machten ihn als letztes Beispiel für einen noch fast frei fliessenden Alpenfluss bekannt.

Doch er ist akut bedroht. Der Tagliamento liegt im Nordosten Italiens und ist auch für die Schweiz von Bedeutung.

«König der Alpenflüsse» wird er genannt, der Tagliamento. Er ist der letzte frei fliessende Alpenfluss. Nur die letzten 20 Kilometer sind kanalisiert.

Klement Tockner von der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag) hat diesen Fluss für die Forschung entdeckt. Doch nun droht dem Fluss Zerstörung.

Eine Liebesgeschichte

Als Klement Tockner vor vier Jahren zum ersten Mal ein Bild des Tagliamento sah, sagte er zu sich: «Das muss du sehen!» Er nahm ein paar Tage frei und fuhr ins Friaul, in den Nordosten Italiens.

Es regnete, der typische Starkregen der Region. Innerhalb von wenigen Stunden schwoll das Flüsslein in seinem Schotterbett zu einem mächtigen Strom an: «Allein diese Dynamik zu sehen, war total eindrücklich», schwärmt er noch heute.

Erste Forschungsprojekte

Kollegen von der Eawag waren beeindruckt, dass es einen solchen Fluss im Alpenraum überhaupt noch gibt. Zusammen initiierten sie ein erstes Forschungsprojekt. Weitere folgten.

Klement Tockner, der bei der Eawag die Forschungsgruppe für Auenökologie und Biodiversität leitet, fährt seither regelmässig hin, sogar in den Ferien mit seiner Familie: «Ich bin fasziniert, wissenschaftlich und von der Ästhetik dieses Flusses.»

Fluss der 1000 Inseln

Der Tagliamento entspring in den karnischen Alpen und mündet nach über 170 Kilometern in die Adria. Er verbindet verschiedene Lebensräume vom Hochgebirge bis zur Lagunenlandschaft am Meer.

Sein Schotterbett wird bis zu zwei Kilometer breit und sieht nach jedem Hochwasser anders aus. Charakteristisch sind die vielen Inseln in unterschiedlichen Stadien, von reinen Schotterbänken bis zu bewachsenen Inseln mit typischer Auen-Vegetation.

Dynamisches System

Viele Inseln, viele Ufer. Ein Forschungsthema sind die Organismen, die im Uferbereich leben. Für sie ist die Dynamik des Flusses entscheidend, der Wechsel zwischen hohen und tiefen Wasserständen.

«Bei der Restwasser-Diskussion wird diese Dynamik zuwenig berücksichtigt. Es genügt nicht, eine bestimmte Wassermenge im Fliessgewässer zu belassen, sie muss auch variieren», erklärt der Gewässerfachmann.

Vorbild für andere Flüsse

Nach Hochwasser bleibt jeweils eine Menge Totholz liegen. Die Rolle dieses Totholzes ist ein weiteres Thema der Forschung am Tagliamento. «Wir revitalisieren Flüsse und wissen eigentlich gar nicht, wie sie funktionieren, da es kaum noch frei fliessende Flüsse gibt.»

In der Schweiz kennt man sie nur noch von Bildern. Deshalb ist der Tagliamento so wichtig und in Fachkreisen mittlerweile weltbekannt, ein eigentliches Referenz-System, zum Beispiel für die Revitalisierung von Thur und Rhone.

Immer Grenzfluss

Dass der Tagliamento noch weitgehend ungestört seinen Lauf nimmt, hat zwei Gründe. Zum einen eben die Dynamik, die die Menschen abhielt, direkt am Fluss zu bauen, zum anderen aber die Lage.

Der Tagliamento bildete lange die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Venedig, eine unsichere Gegend. Auch heute trennt er politische Regionen, Friaul und Venetien. Und er scheidet die Geister.

Flusslandschaft bedroht

Die Provinzregierung plant riesige Rückhaltebecken, um die Hochwassergefahr im kanalisierten Unterlauf zu bannen. «Die Rückhaltebecken sind im schönsten, natürlichsten und ökologisch wertvollsten Abschnitt des Flusses geplant,» bedauert Klement Tockner.

Und nicht nur das. «Es ist der Abschnitt mit der grössten natürlichen Rückhaltekapazität.» Die Menschen dort fühlen sich von ihren wilden Fluss nicht bedroht, denn das Flussbett ist breit und dämpft das Hochwasser.

Die Menschen am kanalisierten Unterlauf dagegen haben Angst, denn im Kanal schwillt das Wasser schnell an.

Europas Naturerbe

Die autonome Provinzregierung hat sich die Argumente gegen das Projekt angehört, abgerückt ist sie davon aber bisher nicht, obwohl die Regierung in Rom das Gebiet als Natura2000-Gebiet betrachtet.

Natura2000-Gebiete gelten als Europa-Naturerbe. «Man verwendet Milliarden für die Revitalisierung stark degradierter Flüsse und ist nicht in der Lage, die letzten naturnahen Fliessgewässer zu schützen», empört sich Klement Tockner.

Alternativen möglich

Für ihn ist klar, welche Interessen vor allem dahinter stecken. Am Tagliamento ist die Schotterentnahme verboten, es sei denn, sie diene dem Hochwasserschutz. Für die Rückhaltebecken würden rund 30 Millionen Kubikmeter Schotter anfallen, ein grosses Geschäft.

Ein zu grosses, wie eine Studie der Universität Bologna zeigt: Die Becken seien überdimensioniert. Und es gäbe zudem eine Reihe von Alternativprojekten, um die Bevölkerung im Unterlauf und die Wildlandschaft zu schützen.

Hingehen und geniessen

Klement Tockner ist überzeugt, dass die Zeit für sein Anliegen arbeitet: «Ich fühle auch eine gewisse Verantwortung für den Schutz des Tagliamento und kann nicht einfach nur meine Forschung machen.»

Und er sagt Interessierten, wie sie zum Schutz des Tagliamento beitragen können: «Hingehen, baden, Vögel beobachten, allein sein, die Wildlandschaft geniessen. Und diese Faszination weitertragen!»

swissinfo, Antoinette Schwab

Der Tagliamento im Friaul ist der letzte weitgehend frei fliessende Alpenfluss.
Er entspringt in den karnischen Alpen und mündet nach 170 Kilometern in die Adria. Sein Schotterbett wird bis zu zwei Kilometer breit.
Der «König der Alpenflüsse», wie er auch genannt wird, ist von grossen Bauvorhaben zum Hochwasserschutz akut bedroht.

Klement Tockner von der Eawag erforscht den Tagliamento im Nordosten Friauls, auch mit Blick auf die Revitalisierung von Schweizer Flüssen (Thur und Rhone).

In der Schweiz gibt es keine frei fliessenden Alpenflüsse mehr. Der Tagliamento ist beispielhaft für Verhalten und Ökologie solcher Flüsse. Wie er sahen früher auch die Schweizer Alpenflüsse aus.

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