«Man muss für diese Herausforderung gut gewappnet sein»
Alexander Pereira, gebürtiger Wiener, Jahrgang 1947, leitet die Scala seit dem 1. September 2014. Der ehemalige Intendant des Zürcher Opernhauses und der Salzburger Festspiele hat dem Mailänder Opernhaus einen wahren Geldsegen beschert: So liegt die Scala in Sachen private Geldspenden heute gleich hinter der Metropolitan Opera in New York auf Rang zwei.
2020 läuft sein Mandat als künstlerischer Leiter und Intendant der Mailänder Oper aus. Wir haben ihn am Rande einer Veranstaltung zum Thema «Mailand als internationale Drehscheibe für kulturelle Zusammenarbeit» in den Räumlichkeiten der Associazione Stampa Estera getroffen.
swissinfo.ch: Welche Bilanz ziehen Sie nach fünf Jahren an der Spitze einer der wichtigsten Kulturinstitutionen der Welt?
Alexander Pereira: Gleich vorweg, letztes Jahr ist nach zwölf Jahren eine Einigung über den Einheitsvertrag erzielt worden. Damit hat ein lang anhaltender Konflikt ein Ende gefunden, was unseren 900 Angestellten und Mitarbeitenden wieder ein entspanntes und positives Arbeitsklima beschert hat.
Was die Programmgestaltung angeht, so haben wir die Zahl der Vorstellungen auf 120 erhöht, weil 80 Opernaufführungen pro Jahr für ein derart bedeutendes Haus wie die Scala einfach wenig war. Danach haben wir ein eigentliches Herbstprogramm auf die Beine gestellt, etwas, das es vorher nicht gab. Zuvor dauerte die Opernsaison nämlich von Dezember bis Juni, was ich immer etwas absurd fand, während von September bis November nur gerade zehn Vorstellungen auf dem Programm standen.
In künstlerischer Hinsicht ist die Scala nun ein lebendiges Theater. Die Idee, die besten Dirigenten der Welt an die Scala zu holen, hat auch dank unserem Musikdirektor Riccardo Chailly ziemlichen Erfolg gehabt. Alsdann sind viele grossartige Sängerinnen und Sänger an die Scala zurückgekehrt und haben das Publikum mit ihren Auftritten begeistert. Man kann also sagen, dass wir das Haus in den vergangenen Jahren nicht unbedingt ruiniert haben.
swissinfo.ch: All dies hat zu einem bedeutenden Anstieg der Besucherzahlen sowie höheren Einnahmen und Erträgen geführt.
A.P.: Zweifellos. Die Besucherzahlen sind um rund 120’000 Einheiten gestiegen und der Kartenverkauf hat in den drei Jahren von 2014 bis 2017 von ursprünglich 28 Millionen Euro auf 36 Millionen zugelegt.
swissinfo.ch: Beim internationalen und vermutlich auch dem Schweizer Publikum ist ebenfalls eine Zunahme festzustellen.
A.P.: Das Touristenpublikum ist um 10-11% gestiegen und hat sich, unter anderem bedingt durch die erhöhte Vorstellungszahl, die mehr Wahlmöglichkeiten bietet, praktisch verdoppelt. Der Besucherzuwachs beim Schweizer Publikum betrifft vor allem die italienische Schweiz. Dies nicht zuletzt dank dem LAC in Lugano, das ein intensives, auf Musik und Theater ausgerichtetes Programm zusammengestellt hat, was der Scala nicht etwa schwindende Besucherzahlen beschert, sondern – davon bin ich überzeugt – im Gegenteil mehr Publikum gebracht hat.
swissinfo.ch: Gemäss einer Statistik über das Besucheralter liegt der Anteil der Unter-40-Jährigen bei nahezu 20%. Wie haben Sie es angestellt, ein jüngeres Publikum zu erreichen?
A.P.: Die Scala hat ein sehr junges Publikum, weil sie schon seit geraumer Zeit das pflegt, was gemeinhin Kulturförderung genannt wird: Sie sorgt dafür, dass ein beträchtlicher Teil der Tickets in einem Gesamtwert von acht Millionen Euro über die Schulen zu einem stark reduzierten Preis an die Jungen verkauft wird.
swissinfo.ch: Ihre Vorstellungen richten sich nicht nur an ein traditionelles Publikum. Sie haben in den letzten Jahren auch viel für die Kinder getan.
A.P.: Kinder sind das Publikum von morgen. Deshalb haben wir ein Projekt mit Kindervorstellungen ins Leben gerufen, die nicht etwa in einem unbedeutenden Nebensaal stattfinden, sondern wie es sich gehört im historischen Saal, der «grande Scala». Die Kinder verfolgen die Aufführung jeweils gespannt und sitzen eine Stunde lang mucksmäuschenstill da. Am Ende der Vorstellung lassen sich die Sänger und Schauspieler in ihren Kostümen und Masken mit ihnen ablichten und geben Autogramme. Eine Erfahrung, die 4-9-jährigen Kindern fürs ganze Leben bleibt.
Diese Kindervorstellungen [die seit 2014 von 200’000 Kindern besucht wurden, Anm. d. R.] haben wir auch ins Ausland exportiert: Erst vor wenigen Tagen haben wir im Grand Théâtre de Genève eine für Kinder adaptierte Fassung von Donizettis «Elisir d’amore» präsentiert.
swissinfo.ch: Zu den Neuerungen, die an der Scala eingeführt wurden, gehören auch eine Aufwertung der sakralen und barocken Musik sowie die Bildung eines Ad-hoc-Orchesters, das übrigens von einem Schweizer geleitet wird: dem Tessiner Diego Fasolis.
A.P.: Ich bin sehr glücklich darüber, dass Diego an dem Projekt mit den Barockopern mitwirkt, das wir bereits in Zürich eingeführt hatten und bei dem das Orchester auf historischen Instrumenten spielt. Als ich an die Scala kam, habe ich versucht, meine Musikerfreunde davon zu überzeugen, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen. Inzwischen haben schon mehrere Aufführungen stattgefunden: Il trionfo del tempo e del disinganno und Tamerlano von Händel, Giulio Cesare mit Cecilia Bartoli und La finta giardiniera von Mozart, mit der wir im Oktober 2019 das Festival in Shanghai eröffnen werden.
swissinfo.ch: Sie haben während zwanzig Jahren das Opernhaus Zürich geleitet: Was ist Ihnen von dieser Erfahrung geblieben?
A.P.: Ich verdanke dem Opernhaus Zürich und meinen zwanzig Jahren als Direktor des Hauses alles, obschon auch die zwölf Jahre bei Olivetti in Deutschland wichtig waren. Es sind Erfahrungen, die mir vor Augen geführt haben, dass das Leiten eines Theaters so seine Tücken hat, was auch für die Scala gilt; es gibt jede Menge Druck auf das Theater und natürlich auf den Intendanten. Die Scala ist ein herrliches Theater, aber man muss für diese grosse Herausforderung wirklich gut gewappnet sein.
swissinfo.ch: Nächstes Jahr geht Ihre Amtszeit zu Ende. Über die Zeit nach Pereira werden bereits verschiedenste Spekulationen herumgeboten.
A.P.: Ich hoffe, dass ich noch ein paar Jahre an der Scala weitermachen kann. Ich liebe meine Arbeit über alles und habe auch noch viel Energie. Der Rest wird sich weisen: Für einen alten Theaternarren wie mich gibt es immer etwas zu tun.
(Übertragung aus dem Italienischen: Cornelia Schlegel)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch