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Angst vor Sprachverwirrung

EDK-Präsident Stöckling ist besorgt über den laufenden Reform-Streit. Keystone

Die Schweiz will an einer Konferenz Ende Monat in Wien darauf drängen, die deutsche Rechtschreibereform fortzusetzen.

Hans Ulrich Stöckling, Präsident der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), äussert im Gespräch mit swissinfo die Befürchtung, der Buchstabenstreit könnte zu einem Chaos führen.

Zwei prominente Verlagshäuser in Deutschland haben sich Anfang August von der neuen Rechtschreibung verabschiedet. Sie wollen die Reformen, die vor sechs Jahren eingeführt wurden, nicht mehr mittragen.

Auch in der Schweiz regt sich Widerstand. Konservative Parteien und einige Schriftsteller machen Druck, zu den alten Regeln zurückzukehren.

Die neu entflammte Diskussion kommt just ein Jahr, bevor die Reform im August 2005 definitiv verbindlich werden soll.

Experten aus acht Ländern, wo Deutsch Haupt- oder Minderheitssprache ist, treffen sich am 23. August in Wien zu einer Aussprache.

swissinfo: Streit um die neuen Rechtschreiberegeln gibt es seit längerem. Auffallend oft flogen die Fetzen jeweils zu Beginn eines neuen Schuljahres. Erleben wir hier bloss ein weiteres Sommertheater?

H.U. Stöckling: Da ist schon was dabei. Andererseits finde ich es absurd, dass grosse deutsche Verlagshäuser wie Spiegel oder Springer sich zu Hütern der deutschen Sprache aufspielen.

Genau diese beiden Verlage haben sich in der Vergangenheit keinen Deut um die Rechtschreibung gekümmert.

swissinfo: Ist die Debatte auch für andere deutschsprachige Länder von Bedeutung?

H.U.St: Ich würde meinen weniger als in Deutschland. Die Differenzen zwischen alter und neuer Rechtschreibung merkt man im Alltag in der Schweiz kaum, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen.

Über 90% der Regeln betreffen Wörter, deren korrekte Schreibweise den meisten Leuten schon bis anhin nicht unbedingt bekannt waren.

In Deutschland ist das anders, weil gewisse Änderungen auch optisch auffälliger sind, besonders die neue Schreibweise des sogenannten Doppel-S.

swissinfo: Wen würde der Abbruch der Sprachreform in der Schweiz am meisten treffen?

H.U.St: Primär die deutsche Sprache und natürlich die Schulen. Man muss sich klar sein: Behördliche Festlegungungen haben nur Wirkung für Schulen, in der Ausbildung und bei Prüfungen. Die Lehrerschaft muss sich auf gültige Regeln verlassen können, falls Prüfungsresultate angefochten werden.

Betroffen von der Reform ist auch der Staat: Die Bundesbehörden bestimmen, welche Regeln für die Veröffentlichung von amtlichen Dokumenten benutzt werden.

Aber sonst ist jeder und jede frei, so zu schreiben, wie ihm oder ihr behagt.

swissinfo: Könnte der Streit auch negative Auswirkungen auf den Fremdsprachenunterricht in der Schweiz haben – ein Land, das Stolz auf seine vier Sprachen ist?

H.U.St: Ich glaube nicht, dass der Fremdsprachenunterricht in der Schweiz von der Reformdebatte betroffen ist.

Der grösste Teil der geänderten Regeln dürfte für den Deutschunterricht für Fremdsprachige wie bisher keine entscheidende Bedeutung haben.

swissinfo: Befürchten Sie, dass die Rücknahme der Reform zu massiven Kosten führen könnte, was die ohnehin knappen Budgets zusätzlich belastete?

H.R.St: Wenn sich eine überzeugende neue Lösung finden liesse, würde mich das Kostenproblem nicht beschäftigen. Neuerungen lassen sich immer schrittweise einführen.

Wer bei einer Aufgabe der Rechtschreibereform sicher Kasse machen würde, wäre der Duden-Verlag. Sein Wörterbuch galt ja lange als massgebend.

swissinfo: In Deutschland hat die Debatte klar politische Züge. Ist etwas ähnliches auch in der Schweiz zu erwarten?

H.R.St: Der Entscheid über die Entwicklung der Sprache muss meiner Ansicht nach bei den Wissenschaftern liegen, nicht bei den Politikern. Es darf nicht sein, dass man mit der Sprachfrage Politik macht.

Es ist schon etwas merkwürdig, wie sich konservative Parteien und Schriftsteller in der Schweiz, die eher als politisch links gelten, zu einer Oppositionsfront zusammengefunden haben.

Zumindest den Widerstand der Schriftsteller kann ich nicht begreifen. Sie tragen zur kulturellen Entwicklung der Sprache bei. Sie haben in der Vergangenheit jedoch eigene Regeln gemacht und werden das auch in Zukunft tun.

swissinfo: War es nicht schlicht ein Fehler, vor sechs Jahren die neue Rechtschreibung einzuführen?

H.U.St: Ich war damals auch nicht überzeugt von allen Neuerungen und habe sogar den Vorschlag gemacht, die Arbeiten abzubrechen. Aber letztlich brauchen die Schulen verbindliche Regeln.

swissinfo: Gegen Ende Monat treffen sich Vertreter aus Ländern, wo Deutsch, – auch als Minderheitensprache – gesprochen wird, zu einer Aussprache. Was will und kann die Schweiz erreichen?

H.U.St: Die Schweiz und Österreich werden darauf drängen, dass die Reform nicht rückgängig gemacht wird. Leider haben sich in Deutschland einige Ministerpräsidenten in die Debatte eingeschaltet und die Sache für die Kultusminister in den Bundesländern schwierig gemacht.

In der Vergangenheitwar es so, dass nicht die Grösse, sondern die Kraft der Argumente zählte.

swissinfo: Welche Möglichkeiten hat die Schweiz, sich dem Abbruch der Rechtschreibereform zu verweigern oder auf gewisse Ausnahmen zu pochen?

H.U.St: Diese Möglichkeit besteht. Es war schon immer so, dass in der Schweiz bestimmte Wörter als korrekt anerkannt sind, die man zum Beispiel in Deutschland nicht gelten lässt.

swissinfo: Was ist vom Vorschlag zu halten, den Politikern das Heft aus der Hand zu nehmen und die Bürgerinnen und Bürger über den weiteren Verlauf der Rechtschreibereform abstimmen zu lassen?

H.U. Stöckling: Das ist Unsinn. Einverstanden bin ich mit dem Vorschlag, die Politik herauszuhalten. Von mir aus ist es Sache hauptsächlich der Wissenschaft, die Regeln festzusetzen.

swissinfo, Urs Geiser

Gut 60% der in der Schweiz lebenden Personen sprechen Deutsch.
Fast 20% Französisch,
6,6% Italienisch,
0,5% Rätoromanisch.
Die Zahl der Personen, die keine offizielle Landesprache sprechen, nimmt zu.

Vor 20 Jahren wurde die deutsche Rechtschreibereform, welche zu Vereinfachungen führen sollte, angeschoben. Der Widerstand gegen die neuen Regeln ist nie erloschen.

Juli 1996 Deutschland, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein und Länder mit deutschsprachigen Minderheiten unterzeichnen in Wien eine Erklärung zur Rechtschreibereform.

August 1998 In den deutschsprachigen Ländern tritt die Rechtschreibereform offiziell in Kraft. Bis Ende Juli 2005 sind die bisherigen Regeln aber noch erlaubt.

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