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Der kulturelle Grenzgänger

In einer italienischen Bar zwei Schritte von zuhause: Zürich bietet Pippo Pollina etwas Italianità. swissinfo.ch

Das Leben ist die Kunst der Begegnung: Dieses Motto brachte den sizilianischen Liedermacher Pippo Pollina dazu, durch ganze Europa zu reisen und mit Künstlern wie Franco Battiato, Konstantin Wecker und Georges Moustaki zu arbeiten.

Als Pippo Pollina vor 20 Jahren nach Zürich kam, hätte er sich nicht vorstellen können, so lange in der Schweiz zu bleiben. Und doch: In der Schweiz hat er seine Karriere als Liedermacher begonnen und eine Familie gegründet. Integriert? Ja, auf seine Weise und sich selber treu bleibend. “Meine Heimat und meine Wurzeln sind meine Erinnerungen”, sagt er.

swissinfo: Sie verliessen Sizilien im Alter von 23 Jahren, nach der Ermordung des Chefredaktors der Anti-Mafia-Zeitschrift, für die Sie damals arbeiteten. War es eine Flucht oder wollten Sie einfach etwas Neues sehen?

Pippo Pollina: Beides. Ich bin eine sehr neugierige Person, ich wollte das Leben erkunden und Italien war mir irgendwann einfach zu eng. Ich liebe dieses Land, aber es ist ein Land, das dich blockiert und den individuellen Handlungsspielraum einengt. Ich war immer ein Freidenker. Für meinen Geschmack gab es in Italien zuviel Konformismus.

Nach dem erwähnten Mord hatte ich zudem keine Lust, mein Leben und das meiner Nächsten zu riskieren. Ich musste einfach eine Pause einlegen. Dass aus dieser Pause dann ein Abschied von Italien wurde, war so nicht geplant. Es ist einfach passiert, und ich merkte es erst, als es passierte.

swissinfo: Der Abschied von Italien hat dazu geführt, dass Sie viele Grenzen überschritten haben. Welche Bedeutung haben “Grenzen” in Ihrem Leben?

P.P.: Die Grenzen faszinieren mich, auch wenn ich von einer Welt ohne Grenzen träume. Es sind Übergangsmomente, aber auch Krisenmomente. Indem man Grenzen überschreitet, kann man sie in gewisser Weise ausschalten.

Mit einem Pass ist dies natürlich leichter. Käme ich aus Burundi, hätte ich wohl mehr Schwierigkeiten gehabt, Europa kreuz und quer zu bereisen.

swissinfo: Sie waren einige Jahre in Europa unterwegs. Warum haben Sie sich ausgerechnet in der Schweiz niedergelassen?

P.P.: Weil es hier die besten Voraussetzungen für meinen kulturellen Hintergrund gab und auch ein entsprechendes Publikum. Die Schweiz ist ein aussergewöhnliches Observatorium in Bezug auf Italien. Du gehst in die Alpen und vor dir liegt Italien, aber du bleibst doch auf Distanz.

In den Jahren 1985/86 konnte man in Zürich täglich die neuesten italienischen Tageszeitungen kaufen. Man sass im Kaffeehaus und konnte den Corriere della Sera oder La Repubblica lesen. Das ging damals nicht mal in London, Paris, Stockholm oder Madrid.

Die 700’000 italienischen Immigranten, die in den 1970er Jahren eingewandert waren, hatten in diesem Land eine gewisse “Italianità” verbreitet. Damit waren die kulturellen Voraussetzungen gegeben, damit meine Musik auch rezipiert werden konnte.

Dann traf ich meine Frau. Und dies hat meine Entscheidung beeinflusst, hier zu bleiben. Wie ich mich kenne, hätte ich normalerweise wohl gesagt: “Ok. Diese Erfahrung hast du gemacht, es geht weiter.” Heute sind meine Kinder der Hauptgrund, warum ich noch hier bin.

Auch wenn ich getrennt von meiner Ex-Frau lebe, möchte ich in der Nähe meiner Kinder sein. Ich möchte ihren Weg begleiten, zumindest bis sie volljährig sind. Dann werden wir weiter sehen.

swissinfo: Eine Familie, ein eigenes Publikum, nahe bei Italien: Hat Zürich all Ihre Wünsche erfüllt?

P.P.: Ich bin zufrieden, doch mein Publikum dürfte durchaus noch etwas italienischer sein. Ich könnte andere Lieder singen. Wenn man weiss, dass das Publikum die Texte auf Anhieb versteht, kann man literarisch eine Nummer zulegen. Mein Repertoire in der Schweiz unterscheidet sich von meinem Repertoire in Italien. Dort ist das Publikum politischer.

Ich lebe in beiden Realitäten. Und ich kenne beide Realitäten sehr gut. Das ist der Vorteil von Personen, die in gewissem Sinn ihre eigene Heimat verlieren: Du eignest dir etwas Neues ein. Du bist weder das eine noch das andere. Du wirst beides.

swissinfo: Gilt dies auch im offiziellen Sinn? Sind Sie Schweizer geworden?

P.P.: Vor einigen Jahren habe ich einen Einbürgerungsantrag gestellt. Dann habe ich diesen zurückgezogen, weil mich ein Telefonat der Polizei unglaublich irritierte.

Vor kurzem habe ich wieder einen Antrag gestellt. Und auch dieses Mal bin ich versucht, diesen zurückzuziehen. Man verlangt von mir, dass ich alle Schul- und Studienbescheinigungen vorlege. Da frage ich mich: “Macht es einen Unterschied, ob ich nur die Primarschule besucht habe oder sechs Uniabschlüsse vorweisen kann?”

Offenbar ja. Ich verstehe, dass geprüft wird, ob ich die Steuern bezahle – ich bezahle sie übrigens regelmässig seit 18 Jahren – oder ob ich Vorstrafen habe. Aber meine Studienbescheinigungen… das verstehe ich einfach nicht.

Im Grunde bin ich nicht auf zusätzliche Pässe aus. Aber man muss auch realistisch sein: Heute habe ich nur eine Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz. Und wenn ich länger als sechs Monate in ein anderes Land gehe, verliere ich diese. Solange meine Kinder in der Schweiz leben, will ich das Recht haben, in dieses Land zu kommen, wenn ich es wünsche. Und dies ist nur mit einem Pass möglich.

swissinfo, Doris Lucini, Zürich
(Aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Pippo – Giuseppe –Pollina wird 1963 in Palermo geboren. Mit sechs Jahren wird er beim Fussballspielen von einem Auto angefahren. Die schweren Verletzungen verändern sein Leben. Er wendet sich der Literatur und Musik zu.

Während seines Jurastudiums in Palermo arbeitete er für die Anti-Mafia-Zeitschrift I Siciliani. Der Chefredaktor, Giuseppe Fava, wird 1984 ermordet. Pollina verlässt Sizilien und entdeckt Europa.

1986 trifft er in Luzern den rätoromanischen Liedermacher Linard Bardill. Dieser animiert ihn dazu, seine Lieder aufzunehmen, und ebnet ihm den Weg zu Konzertsälen in der Schweiz.

1993 und 1994 wird er auch in Deutschland und Österreich bekannt. Er begleitet den deutschen Chansonier Konstantin Wecker auf dessen Tournee. 1995 lernt er Georges Moustaki kennen, der ihm hilft, ein Léo Ferré gewidmetes Lied ins Französische zu übersetzen.

1997 entscheidet er, erstmals wieder in Italien aufzutreten. Zwei Jahre später veröffentlicht er das Album “Rossocuore”, das sich von literarischen Texten inspirieren lässt.

2007 wird “Ultimo volo”, seine Theateroper über das Flugzeugunglück von Ustica, uraufgeführt – bei der Einweihung eines neuen Museums von Bologna, das den Opfern von Ustica gewidmet ist.

Pollina hat als Liedermacher nicht nur 14 Alben veröffentlicht, sondern auch als Schauspieler im Film “Ricordare Anna” (2005) von Walo Deubler mitgewirkt.

Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1996 den Ravensburger Preis Kupferle und den Preis für ziviles und politisches Engagement des Festivals von Faenza (2005). 2007 war er für den Schweizer Kleinkunstpreis nominiert.

Seine Italien-Tour 2004 hat der Hamburger Filmemacher Christian Geisler in einem Dok-Film auf DVD festgehalten. Mehrere Bücher wurden ihm gewidmet, darunter “Camminando, camminando” (Vigne, 1997) und “Begegnungen mit Pippo Pollina” (Loeffler, 2005).

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