Der «Marsch auf Bellinzona» : Das Scheitern der Schweizer Faschisten
Vor hundert Jahren ging ein Gespenst um in Europa – das Gespenst des Faschismus. Vor allem in der lateinischen Schweiz bejubelten verschiedene Bewegungen Mussolinis Führungsstil und teilten sein Gedankengut.
Am 28.Oktober 1922 war in Italien der Teufel los. Faschistische Schergen, etwa fünfzigtausend an der Zahl, marschierten in Rom ein, und Benito Mussolini übernahm die Macht. Als Steigbügelhalter diente ihm König Vittore Emanuele III. Mit der Regierungsbildung beauftragt, läutete der Duce seine über zwanzig Jahre währende totalitäre Herrschaft ein.
In der Schweiz löste Mussolinis Aufstieg in verschiedenen Kreisen tosenden Beifall aus. Faschistischer Hotspot war Lausanne, wo der fahnenflüchtige Sozialist Mussolini 1902 ein karges Einkommen als Handlanger und Ausläufer gefunden hatte.
Sehr bald gelang es ihm, sich in der italienischen Kolonie des Kantons Waadt einen Namen zu machen, indem er sich mit seinen Brandreden und beissenden Artikeln in der Zeitung L’Avvenire del lavoratore hervortat. 1904 kehrte er der Schweiz den Rücken, doch seine agitatorischen Umtriebe wirkten nach – in allen Landesteilen.
Malaise nach dem Ersten Weltkrieg
Zwanzig Jahre später: Seit dem Generalstreik von 1918 herrschte in der Schweiz eine politische Malaise. Während die Linke das revolutionäre Russland als Vorzeigemodell für eine gerechtere Gesellschaft bewunderte, vermeinten zahlreiche Liberale und Rechtskatholiken im faschistischen Italien ein Bollwerk gegen den Kommunismus zu erkennen.
Die Rechte hegte gegenüber der führungsschwachen Schweizer Bundesregierung ein tiefes Misstrauen und sehnte sich nach einer starken Hand. Selbst der konservativ-freisinnig gesinnte Schweizer General Henri Guisan zeigte sich von Mussolinis Treiben tief beeindruckt – zumindest bis sich dieser mit Hitler verbündete.
1934 lobte er den Duce in einem Bericht an das Eidgenössische Militärdepartement: «… Das Verdienst dieses Mannes, dieses Genies, besteht darin, dass es ihm gelungen ist, alle Kräfte der Nation zu disziplinieren, sie zu einem einzigen Strom zu vereinen und diesen Strom ausschliesslich für die Grösse seines Landes zu nutzen.»
Im Januar 1937 verlieh die Universität Lausanne Mussolini die Ehrendoktorwürde. Diese akademische Auszeichnung stiess schon damals auf heftige Kritik.
Eine zentrale Figur des Schweizer Italo-Faschismus war neben dem Genfer Georges Oltramare der Waadtländer Arthur Fonjallaz. Dieser legte eine steile Militärkarriere hin und wurde Oberstbrigadier. Seine Begeisterung für den Faschismus tat er schon 1922 kund, nachdem er Mussolini zum ersten Mal getroffen hatte.
1923 trat er aus der Armee aus und wirkte dann als Lehrbeauftragter für Kriegswissenschaften an der der ETH Zürich. Er hegte Hoffnungen, bald zum ordentlichen Professor berufen zu werden. Die ersehnte Ernennung blieb jedoch aus. In seiner Kränkung suchte Fonjallaz nach Sündenböcken und schrieb die ausgebliebene Promotion einer freimaurerischen Verschwörung zu.
1933 befasste sich der Bundesrat mit seinem Lehrauftrag und bewegte ihn, seinen Dienst zu quittieren. Im gleichen Jahr gründete Fonjallaz in Rom die Schweizerische Faschistische Bewegung, die sich organisatorisch dem Partito Nazionale Fascista Italiens anlehnte. Mindestens 15-Mal traf er sich mit Mussolini persönlich, der ihm rund 600 000 Franken Unterstützungelder zufliessen liess.
Sonderfall Ticino
Die Expansionsgelüste Italiens wurden mit einem Schlagwort legitimiert: Irredentismus. Nach dieser Doktrin waren die Italienisch und Rätoromanisch sprechenden Volksgruppen der Schweiz «unerlöste Bluts- und Sprachbrüder», die künftige Teile des italienischen Reichs bilden sollten. Diese Absurdität verfing bei einzelnen Tessinern vor allem aus einem Grund: Die Zunahme der deutschschweizerischen und reichsdeutschen Bevölkerung ging aus ihrer Sicht mit einer unerträglichen Geringschätzung der italienischen Kultur einher.
Die breite Mehrheit der Ticinesi liess sich von der massiven Propaganda Italiens nicht einlullen. Dennoch sorgte ein harter Kern von Tessiner Rechtsextremisten für eine Irritation der Kantonsregierung.
Zu den faschistischen Drahtziehern im Kanton Tessin gehörte der begüterte Ingenieur Nino Rezzonico, den Fonjallaz am 29. Oktober 1933 zu seinem Stellvertreter in der italienischen Schweiz ernannt und mit dem Aufbau der Dachorganisation Federazione fascista ticinese beauftragt hatte.
Mit der Absicht, einen Fascio (Ortsgruppe) mit den in Mailand residierenden Auslandschweizern zu gründen, kontaktierte Rezzonico noch Ende Jahr ein prominentes Mitglied der Schweizer Handelskammer in Italien. Nach einer strategischen Sitzung mit seinen dortigen Verbindungsleuten, informierte Fonjallaz den Duce voller Stolz über sein Vorhaben, in Mailand einen Schweizer Fascio mit einem Anfangsbestand von etwa fünfzig Faschisten ins Leben zu rufen. Aber daraus wurde nichts.
In der lombardischen Schweizer-Kolonie bekämpften sich aus politischen Gründen zwei Lager. Der Wirbel war so gross, dass der Schweizer Gesandte in Rom, Georges Wagnière, intervenieren musste.
Wenn es Mussolini mit dem «Marsch auf Rom» gelungen war, die Macht zu übernehmen, so dachte Rezzonico, sollte es auch ihm gelingen, mit einem «Marsch auf Bellinzona» die Tessiner Regierung in die Knie zu zwingen.
Am 25. Januar 1934 versammeln sich Rezzonicos Anhänger in Lugano. Sie rüsten sich für den Marsch nach der Kantonshauptstadt Bellinzona mit der Absicht, den Sitz der Kantonsregierung zu besetzen und den Anschluss an Italien zu fordern. Die irredentistische Aktion lässt die im Tessin lebenden Italiener jedoch wider Erwarten kalt, und sie bleiben ihr fern. Zum Schluss marschiert ein Grüppchen von nur etwa sechzig bewaffneten Demonstranten auf den Regierungspalast zu. Empfangen werden sie dort von etwa vierhundert Antifaschisten, die vor den verschlossenen Türen des Parlamentsgebäudes stehen. Ausser Handgemengen geschieht weiter nichts. Der Plan der Faschisten, die Regierungssitzung zu unterlaufen, verläuft im Sand.
Rezzonico wurde nach diesem Fiasko infolge von Linienkämpfen aus der Parteiführung der Federazione Fascista del Ticino ausgeschlossen. Er zog sich daraufhin vorübergehend auf sein Anwesen in Turin zurück.
Die Achse Rom-Berlin und der Überfall der Wehrmacht auf Polen vom 1. September 1939 öffnete einer Mehrheit der Tessiner Faschisten die Augen, und der von den Deutschschweizer Fronten erhoffte Zusammenschluss scheiterte definitiv. Als neuen Monate später auch Italien in den Krieg eintrat, löste sich der faschistische Spuk in der ganzen Schweiz auf.
1941 wurde Fonjallaz verhaftet und wegen Spionage zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Rezzonico tauchte zu dieser Zeit in Porzo bei Lugano wieder auf und fristete fortan ein Schattendasein als Lokalpolitiker und Journalist.
Yves H. Schumacher ist Verfasser des 2019 vom Orell Füssli Verlag herausgegebenen und mittlerweile vergriffenen Werks «Nazis! Fascistes! Fascisti! Faschismus in der Schweiz 1918-1940». Eine überarbeitete Zweitauflage wird Anfang 2023 im Verlag Zocher&Peter erscheinen.
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