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Die Sehnsucht nach dem Absoluten

Die Literaturtage wagen auch Verqueres. Keystone

Im Rahmen der 25. Solothurner Literaturtage widmet sich eine Ausstellung der schweizerischen Reiseliteratur.

In der Ausstellung werden Arbeiten von Annemarie Schwarzenbach (1908-1942), Ella Maillart (1903-1997) und Nicolas Bouvier (1929-1998) vorgestellt.

Schweizerische Reiseliteratur findet heutzutage noch im Feuilleton oder in der Lifestylespalte der Wochenpresse statt. Es sind journalistisch aufgemotzte Berichte, welche die beste Location, das beste Wellnessangebot, die tollste Aussicht auf der Insel preisen.

Im besten Fall gut geschrieben und recherchiert, im schlechtesten Fall billige Werbetexte. Die reiche, meist westliche Welt sucht unersättlich die (vermeintlich) letzten Paradiese der Erde.

Drei Schweizer Persönlichkeiten

In einer Zeit, da die Welt noch nicht multimedial erschlossen war, in der Reisen beschwerlich und fremde Kulturen mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu begutachtet wurden, schufen drei Schweizer Persönlichkeiten ein dokumentarisch wie künstlerisch reiches Werk.

Dieses wird nun von der Ausstellung “La voie cruelle, la voie heureuse – Annemarie Schwarzenbach, Ella Maillart und Nicolas Bouvier” gewürdigt. Sie zeichnet mit zahlreichen Fotografien und Textauszügen die Bilder dreier Reisender.

Die persönlichen Antriebe, die Grenzen der Heimat hinter sich zu lassen, die neue Welt zu erfahren und letztlich wieder sich selbst zu finden, sind für die drei Reiseliteraten so unterschiedlich wie ihr Werk. Lesenswert sind sie alle.

Der Genfer Nicolas Bouvier

Nicolas Bouvier wird am 6. März in Grand-Lancy bei Genf geboren. Er wächst in einem kultivierten und gastfreundlichen Hause auf. Mit sechzehn Jahren unternimmt er erste Reisen nach Frankreich, Italien und Finnland. Mit dem befreundeten Maler Thierry Vernet (1927-1993) reist er nach Jugoslawien, Griechenland und Algerien.

Afghanistan via Südroute

Im Sommer 1953 bricht er mit Thierry Vernet gen Osten auf. Beraten von Ella Maillart fahren sie mit einem Fiat Topolino durch den Balkan, in die Türkei, weiter in den heutigen Iran. Kabul erreichen sie via die so genannte Südroute. In Afghanistan trennen sich die Wege der beiden Freunde. Bouvier reist alleine weiter nach Indien.

Rund zehn Jahre später, Nicolas Bouvier hat einen Teil seiner Aufzeichnungen verloren, erscheint sein selbstfinanziertes Buch “L’usage du monde” über jene verwegene Reise nach Afghanistan. Ein grossartiges Buch, das sprachlich und inhaltlich die Lesenden verführt.

Ein Buch, das dem Bild dieser Länder, das medial und kriegerisch geprägt ist, eine ganz neue Sicht erlaubt. Indem Bouvier früher als die Nachrichtenagenturen der Welt da war, öffnet er uns die Augen, lässt einen uns unbekannten Balkan, ein unbekanntes Afghanistan vor unserer Iris tanzen.

Die reiche Annemarie Schwarzenbach

1908 wird Annemarie Schwarzenbach in eine der reichsten Schweizer Familien hineingeboren. Ihr Vater ist ein Seidenkönig, ihre Mutter die Tochter des Generals Ulrich Wille. Ein schwerwiegendes Erbe.

Schon früh versucht die eigenwillige Annemarie der Enge, der drückenden Schwere des Elternhauses zu entkommen. Sie studiert Geschichte, lernt Erika und Klaus Mann und den gefährlichsten Schnee, das Morphium, kennen.

Bald publiziert sie ihr erstes Buch, schriftstellert, reist herum, beginnt zu fotografieren, arbeitet journalistisch. Sie reist durch Europa und Amerika. Die Spannungen mit ihrer Familie nehmen zu, ihre Freundschaft mit Erika Mann ist problematisch.

Afghanistan via Nordroute

Sie bereist, beschreibt, fotografiert mit grossem Können immer auf der Suche nach dem Absoluten. Mit weniger kann und will sie sich nicht zufrieden geben. Während einer ihrer vielen Entziehungskuren besucht sei Ella Maillart, ihres Zeichens eine wahre Abenteurerin und unerschrockene Reisende.

Zusammen reisen die beiden Frauen nach Afghanistan, via die Nordroute. In der Schweizer Illustrierten erscheinen Reiseberichte und Fotoreportagen. Die Schweiz staunt und geniesst. In Afghanistan angekommen, werden die Frauen vom Ausbruch des 2. Weltkrieges überrascht.

Die Abwärtsspirale von Annemarie Schwarzenbach dreht sich immer schneller. Nach einem Nerven-Zusammenbruch zieht es sie wieder in die Ferne. Die Reise-Fluchten. 1942 stirbt sie an den Folgen eines Fahrradunfalls.

Das vielseitige Werk Annemaire Schwarzenbachs wird erst 1988 einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Ihre Familie liess lange, lange Gras über das schwarze Schaf der Schwarzenbachs wachsen. Zu unkonventionell, zu widersprüchlich, zu eigensinnig war der Mensch und ist das grossartige Werk Annemarie Schwarzenbachs.

Landhockey mit Ella Maillard

Ella Maillard, 1903 in Genf geboren war eine vielschichtige Persönlichkeit. Sie gründete 1919 den ersten Landhockey-Club für Frauen in der Westschweiz, nimmt 1924 als Seglerin an der Olympiade teil, ist Mitglied der Schweizerischen Skinationalmannschaft.

Sie ist Matrosin, Sekretärin, Handelsreisende, Französischlehrerin, Stuntwoman, Fotografin, Reisende und Schriftstellerin in Personalunion. Vier Jahre ihres Lebens verbringt sie meditativ in Indien.

Durch die Neuauflage ihrer Bücher seit den 80er Jahren wird Maillard als bedeutende Reiseschriftstellerin, Fotografin und Asienexpertin wieder entdeckt. 1989 übergibt sei dem Musée de l’Elysée ihr Fotoarchiv mit 16’000 Aufnahmen.

Streifzug durch die klassische Reiseliteratur

Die Ausstellung in Solothurn, auf Schloss Waldegg gezeigt, öffnet die Augen für eine aussterbende oder zumindest neu zu definierende Literaturgattung.
In den Werken von Annemarie Schwarzenbach, Ella Maillard und Nicolas Bouvier lebt zumindest die klassische, unbedingt lesenswerte Form weiter.

Eine Literatur, die zeigt, dass die Welt von einst keine bessere, eine andere war.

swissinfo, Brigitta Javurek, Solothurn

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