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Die Zauberflötistin von Palermo

Rose-Marie Soncini: Erste Flötistin des sizilianischen Sinfonieorchesters. swissinfo.ch

Die Musik hat Rose-Marie Soncini im Jahr 1976 nach Sizilien geführt, die Kunst und die Menschen haben sie verführt. Deshalb ist sie bis heute in Süditalien geblieben.

Nach dem ersten Kulturschock freundete sich die Schweizer Musikerin immer mehr mit der mediterranen Lebensweise an.

“Ich wollte damals weg von Biel: Ich wollte neue Erfahrungen sammeln. Der Zufall führte mich hierhin, nach Palermo. Nach einer Probezeit von fünf Wochen war ich überzeugt, dass dies die richtige Stadt für mich ist.”

Das war 1976. Bereits ein Jahr später war Soncini erste Flötistin des sizilianischen Sinfonieorchesters. Sie integrierte sich perfekt, wie 27 Berufsjahre in Palermo unter Beweis stellen.

“Ich hatte das Glück, ein grossartiges Orchester anzutreffen. Während wir in Biel viel Opernmusik spielten, gingen wir in Palermo die grossen Werke der sinfonischen Musik an, von Beethoven über Ravel und Debussy bis Mahler. Ausserdem war es abwechslungsreich, weil wir jede Woche das Programm wechselten.”

Die Schweizer Musikerin fand ihr unerwartetes Glück auf einer Insel ganz im Süden des europäischen Kontinents, in einer italienischen Stadt, die von der Schweiz nicht nur im geografischen Sinn weit entfernt ist. Damals war Palermo im Ausland gleichbedeutend mit Kriminalität, Gewalt und Mafia.

Ein Kulturparadox

Rose-Marie Soncini lebte sich in ihr neues berufliches Umfeld sehr schnell ein. Länger dauerte die Gewöhnung an die neue soziale Umgebung.

“Für eine Frau war das nicht einfach. 1976 war es verdächtig, wenn du als Frau alleine in eine Bar oder ins Kino gingst. Einmal zog ich einen Minirock an, habe aber schnell verstanden, dass ich das besser nicht getan hätte.”

“Wenn ich auf dem Velo durch die Stadt fuhr, tauchte sofort jemand mit dem Auto neben mir auf. Aber ich habe auch sehr viel Gastfreundschaft erfahren und gute, intensive Beziehungen knüpfen können.”

“Es war auf alle Fälle ein Kulturschock, der durch die unterschiedlichen Lebensweisen und Lebensrhythmen ausgelöst wurde: Der tosende Verkehr, das stundelange Schlange stehen, um einfachste bürokratische Dinge bei den Behörden oder der Post zu erledigen.”

Und trotz allem gab es für die Schweizerin in der Auseinandersetzung mit der Realität dieser faszinierenden Stadt offenbar auch ein angenehmes Gefühl. “Ich lebte in einer Art Paradox: einerseits war ich in diese chaotische und scheinbar regellose Gesellschaft eingetaucht. Andererseits brachte ich meine typischen Schweizer Eigenschaften mit, das heisst Präzision, aber auch Verschlossenheit. Ich träumte von einem Mittelweg.”

Eine Stadt im Wandel

Einige Jahre nach ihrer Ankunft 1976 heiratete sie, was den Aufenthalt in Sizilien automatisch verlängerte. Die Ehe ging zwar in die Brüche. Trotzdem entschied sich Soncini in Palermo zu bleiben.

Derweil geriet auch auf der Insel einiges in Bewegung: Sizilien näherte sich in gewisser Weise dem Festland an. Und auch Palermo veränderte sich. Eine alleinstehende Frau erregte kein Aufsehen mehr. Die Stadt wurde kosmopolitischer.

Während der Amtszeit von Bürgermeister Leoluca Orlando entstanden unzählige kulturelle und politische Initiativen, welche die Stadt zu einem touristischen und kulturellen Pol von europäischer Ausstrahlung machten.

Doch diese Phase des Aufblühens neigt sich nach Ansicht von Rose-Marie Soncini dem Ende zu. “Ich habe den Eindruck, dass die Stadt wieder wie früher wird. Das Chaos nimmt zu, der Abfall liegt in den Strassen herum. Und vor allem fehlen erneut das Vertrauen und der Wille zu einer Veränderung. Mit dem Alibi der Mafia beginnen die Leute erneut, sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.”

Die Bilanz der Schweizer Flötistin in Palermo fällt durchzogen aus. Auf der einen Seite ist die Genugtuung darüber spürbar, neue Schätze entdeckt zu haben. Auf der anderen Seite ist die Frustration einer Frau zu erkennen, die in gewisser Weise immer bereit zur Abreise war.

“Ich verdiene hier gut. Ich habe mein Haus. Aber immer häufiger versuche ich, ausserhalb von Sizilien Erfahrungen zu sammeln. Ich habe Verpflichtungen in Mailand, aber auch im Ausland. In Kürze habe ich ein Engagement in Südkorea.”

Auf ihren Reisen macht sie häufig in der Schweiz Station, um ihre Familie zu besuchen. Aber Rose-Marie Soncini kann sich nicht mehr vorstellen, in ihr Heimatland zurückzukehren.

“Italien ist zu meiner neuen Heimat geworden. Ich liebe diese Orte der Kunst und Kultur; jede Stadt repräsentiert ein Stück Geschichte. Und auch die Mentalität der Leute ist hier offener und vitaler als in der Schweiz.”

swissinfo, Paolo Bertossa, Palermo

600’000 Schweizer leben im Ausland.
Seit 1990 ist die Fünfte Schweiz um 150’000 Personen angewachsen.
Im Jahr 2002 hatten 43’000 Schweizer ihren Wohnsitz in Italien.

Rose-Marie Soncini schloss ihr Studium am Musikkonservatorium in Bern ab.

Ihre ersten beruflichen Erfahrungen sammelte die Flötistin beim Stadtorchester von Metz in Frankreich, danach bei der Orchestergesellschaft in Biel.

Seit 1977 ist sie erste Flötistin des sizilianischen Sinfonieorchesters in Palermo. Mit diesem Ensemble bestritt sie zahlreiche Tourneen auf der ganzen Welt.

Darüber hinaus arbeitet Soncini seit den 90-er Jahren mit verschiedenen Musikervereinigungen zusammen, so mit dem Orchester Fenice von Venedig und der National Flute Association von Minneapolis (USA).

Zudem hat sie am Festival der Frauen in Italien teilgenommen und diverse Stücke für das Fernsehen der italienischen Schweiz aufgezeichnet.

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