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Neutralität kann zur Krankheit werden

Viktor Kortschnoi, der "Löwe von Leningrad", ist in den vergangenen Jahren mehrere Male in seine Heimatstadt zurückgekehrt, die heute wieder St. Petersburg heisst. Doch nicht alle Wunden sind verheilt.

Kortschnoi, der ein lebhaftes Interesse an Politik hat, ist der Ansicht, dass auch er zur Politik der Perestroika von Michail Gorbatschow beigetragen hat, zum Wandel in der Sowjetunion also.

Auf die Frage, wie er denn heute in seiner Heimatstadt empfangen werde, erklärt Kortschnoi: “Bestens. Man will sich zweifellos dafür entschuldigen, wie man mich bis zu meiner Flucht aus der Sowjetunion behandelt hatte.”

Und auf die Frage, ob er sich denn mit seiner früheren Heimat ausgesöhnt habe, meint der Schach-Grossmeister: “Nicht ich habe den Krieg erklärt.” Daher sei es auch Sache der politischen Führer gewesen, den ersten Schritt zu tun.

Nicht wieder Russe werden

“1978 hat mir das Politbüro die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen”, ruft Kortschnoi in Erinnerung. Und 1991 habe schliesslich Gorbatschow, der letzte sowjetische Präsident, ihm vorgeschlagen, doch wieder russischer Bürger zu werden.

“Ich gab mich recht diplomatisch, habe aber abgelehnt. Und ich bin stolz darauf, auf meine eigene Weise schon sehr früh Ansätze für die Perestroika provoziert zu haben.”

Viele Intellektuelle und Kunstschaffende hätten sich aus der Sowjetunion abgesetzt. Und als er Schachduelle gegen die UdSSR gewonnen habe, hätten die Menschen sehen können, dass man sich gegen das Regime auflehnen könne.

Der war kein Engel

Noch heute interessiert Kortschnoi sich für Politik, ein Experte sei er aber nicht. “Doch wenn ich jeweils von der Schweiz spreche, sage ich immer, dass die Neutralität zur Krankheit werden kann.”

Selber sei er mit dem Alter etwas weniger aufmüpfig und angriffig geworden, sagt Kortschnoi. “Aber ich bin weiterhin stolz und ehrgeizig wie früher.”

Wenn er einmal nicht mehr unter den Schachgrössen dieser Welt weilt, möchte Kortschnoi, dass man sich an ihn als einen Mann erinnert, der kein Engel war.

swissinfo, Jonathan Hirsch
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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