Vorteil Gstaad: 100 Jahre «einzigartiges» Tennis
Während am Swiss Open Gstaad zum hundertsten Mal die Tennisbälle fliegen, schaut swissinfo.ch auf die Höhen und Tiefen des Turniers (es wird auf 1050 Metern über Meer ausgetragen), dessen Auswirkungen auf den lokalen Tourismus sowie die Herausforderung, einen internationalen Tenniswettkampf in einem kleinen Bergdorf zu organisieren.
«Die Briten kommen!», dürften die Schweizer Unternehmer zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerufen haben, als die Eisenbahn in die Alpen hinauf stieg und die Basis für einen landschaftsverändernden Tourismusboom legte.
Im Dezember 1904 erreichte die Montreux-Berner Oberland Bahn (MOB) das idyllische Bergdorf Gstaad. Hotels konnten nicht schnell genug gebaut werden, und 1913 öffnete das Gstaad Palace Hotel seine Tore, das heute Kultstatus geniesst.
«Danach galt es, die Touristen zu unterhalten», sagt Julien Finkbeiner, Vizedirektor der Swiss Open Gstaad. «Weil die meisten von ihnen Briten waren, war es naheliegend, Tennisplätze neben den Hotels zu errichten. So hat alles begonnen.»
Nach allem, was man weiss, war es ein grosser Erfolg. «Das Lawn Tennisturnier in Gstaad verlief am letzten Spieltag, dem Samstag, auf den feinen Palace-Courts in unbeschreiblicher Sommerpracht», schrieb der Anzeiger von Saanen damals. «Am Abend vereinigte ein Schlussball Spieler und Tanzfreunde in der grossen Halle des Winterpalasts.»
Nach dem Krieg konnte das Dorf seinen Ruf für Eleganz und Exklusivität festigen. Es wurde zu einem diskreten Ferienort für Stars wie Brigitte Bardot, Liz Taylor und Grace Kelly, was wiederum die Bekanntheit des Turniers steigerte.
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Das Berggrün der 1960er-Jahre in Gstaad
«Weil es damals nicht so einfach war zu reisen wie heute, pflegten die australischen Spieler, die zu den besten der Welt gehörten, nach den Spielen in Wimbledon nicht sofort heimzukehren. Sie seien in Europa geblieben und hätten in Gstaad gespielt, sagt Finkbeiner. «Damals war es für Tennisspieler ungewöhnlich, in Fünfsterne-Hotels wie dem Gstaad Palace zu übernachten.»
Eine zusätzliche Attraktion war die Chance, Revanche nehmen zu können für Niederlagen in Wimbledon, das ein paar Wochen vor dem Gstaader Turnier ausgetragen wurde. Deshalb wird das Schweizer Turnier manchmal auch «Wimbledon der Alpen» genannt, obwohl in Gstaad nicht auf Rasen gespielt wird.
«1958 begegneten sich in den Finalspielen von Wimbledon und Gstaad die gleichen Spieler. Es war, wie wenn Djokovic und Federer dieses Jahr auch im Gstaader Final aufeinander treffen würden», sagt Finkbeiner wehmütig.
Swiss Open 2015
Das 100. Swiss Open Gstaad findet vom 25. Juli bis 2. August statt.
Zu den besonderen Ereignissen gehört ein Showmatch vom 26. Juli mit ehemaligen Stars wie Illie Nastase, Alex Corretja und Roy Emerson.
Nummer 1 ist der Belgier David Goffin, Nummer 14 der Weltrangliste. Stan Wawrinka, der Sieger des diesjährigen French Open, sagte seine Teilnahme kurzfristig ab.
Das Preisgeld beträgt insgesamt 458’000 Franken.
Problem mit der Höhe
Auf einer Höhe von 1050 Metern über Meer ist das Swiss Open Gstaad das höchstgelegene ATP-Turnier (Association of Tennis Professionals) Europas (das Ecuador Open, das in Quito ausgetragen wird, ist das höchstgelegene ATP-Turnier der Welt).
«In organisatorischer Hinsicht ist die Höhenlage keine grosse Herausforderung. Es könnte schneien, aber in den letzten zehn Jahren haben wir nie Schnee gehabt. Die grosse Herausforderung für die Spieler ist, dass die Bälle höher und weiter fliegen. Vor 20 Jahren war es noch schwieriger gewesen wegen des Materials (2002 wurden andere Balltypen eingeführt). Damals erhielten wir die Bälle jeweils zwei, drei Monate vor Spielbeginn, und wir mussten alle Schachteln öffnen, damit sich der Luftdruck in den Bällen jenem ausserhalb anglich. Das war ein Trick, um den Ball aufzuweichen», sagt Finkbeiner.
Wer während der Tenniswoche durch Gstaad geht, ist beeindruckt – nicht wegen verirrter Bälle, sondern von der Feststimmung im Dorf. Wie Finkbeiner sagt, ist es «kein Wettkampf wie in Genf oder Basel, sondern, wie wenn man in die Ferien ginge. An einem sonnigen Tag im Juli ist Gstaad eine der schönsten Landschaften der Welt.»
Tennislegende Roy Emerson stimmt zu: «Ich konnte mich kaum konzentrieren, als ich in den 1950er-Jahren zum ersten Mal hier spielte», schreibt der Gewinner von rekordhohen fünf Trophäen in Gstaad, «weil ich kaum glauben konnte, wie schön alles war: die Berge, die Eisenbahn, die um die Tennisplätze kurvte und pfiff, wenn man den Ball hochwarf, um aufzuschlagen, die heimeligen Gebäude aus Holz…».
Lokale Beteiligung
Diese Intimität stellt die grösste Herausforderung für die Organisatoren. «Die Austragung findet – umgeben von lauter Chalets – mitten im Dorf statt, wo der Quadratmeter-Preis sehr hoch ist», sagt Finkbeiner.
«Es ist uns gelungen, ein Stadion von 5000 Sitzplätzen zu errichten [das nach Emerson benannt ist]. Wir benötigten auch eine Publikumszone für Essen und Getränke, öffentlichen Transport und Parkmöglichkeiten. Im Prinzip parkiert man den Wagen auf einem Feld, das normalerweise zum Melken gebraucht wird! Wir sind in der Tat ein Teil des Alltags in Gstaad. Jeder Bürger von Gstaad hat mindestens einmal für das Turnier gearbeitet.»
Martin Bachofner, Direktor von Gstaad Tourismus, stimmt zu: «Ohne Freiwilligenarbeit gäbe es dieses Turnier nicht. Das Image, welches das Turnier heute hat, ist das Resultat von jahrzehntelanger Erfahrung.»
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Denkwürdige Schnappschüsse
Nicht immer ging alles glatt über die Bühne. Swiss Open Gstaad hatte einige finanzielle Probleme in all den Jahren, zum Beispiel 1965, 2001 und 2005.
«2004/2005 gab es finanzielle Schwierigkeiten infolge schlechten Managements», sagt Finkbeiner. «Aber unsere Gesellschaft und der Ort Gstaad haben das Turnier übernommen und 2006 gerettet. Dank der Bevölkerung und lokaler Sponsoren konnten wir das Turnier reibungslos durchführen.»
Zusätzlicher Wert
Das Swiss Open ist im Verhältnis zur lokalen Bevölkerungszahl, die zwischen 7000 (inklusive den Dörfern Saanen und Schönried) und – während der Swiss Open – 40’000 beträgt, das grösste Tennisturnier der Welt.
«Während der Spiele haben wir rund 5000 zusätzliche Übernachtungen», sagt Bachofner. Dass diese Zahl nicht grösser ist, liegt daran, dass rund zwei Drittel der Zuschauer Schweizer sind, die Gstaad tagsüber besuchen.
«Die Universität Bern hat vor einigen Jahren in einer Studie herausgefunden, dass der zusätzliche Wert des Tennisturniers rund 10 Millionen Franken beträgt – Konsumation in Restaurants, Übernachtungen, Einkäufe usw.»
Als Federer 2013 seine selbstauferlegte Gstaad-Abstinenz aufgab, habe es 50% mehr Reservierungen gegeben, sagt Bachofner. «Das war verrückt, wirklich erstaunlich.»
Geschichte des Swiss Open Gstaad
1915: Das Gstaad Palace Hotel trägt ein vom Gstaader Rasentennis-Club organisiertes Herren-Einzelturnier auf Sand aus. Trotz des Namens wurde Tennis in Gstaad nie auf Rasen gespielt. Gewonnen hatte das Turnier der Russe Victor de Coubasch.
1930 werden mitten im Dorf drei Tennisplätze errichtet.
1932 werden die Schweizer Meisterschaften ausgetragen, wo erstmals Balljungen und Schiedsrichter eingesetzt werden.
1939: Die Meisterschaften werden auch während des Kriegs durchgeführt, aber der Standard leidet, weil nur Spieler teilnehmen können, die als militärisch untauglich erklärt werden oder solche, die vom Krieg nicht unmittelbar betroffen sind.
1949: Die «Drobny Affäre» rückt Gstaad in die Schlagzeilen der Medien. Tschechische Unterhändler versuchen, zwei tschechische Spieler heimzubringen, darunter Jaroslav Drobny, der gegen einen spanischen Spieler antreten soll, der das Franco-Regime vertritt und deshalb ein politischer Opponent der Tschechoslowakei ist. Die Unterhändler werden nicht ins Palace Hotel gelassen, wo die tschechischen Spieler untergebracht sind, und kehren mit leeren Händen nach Bern zurück.
1969 werden die Finalspiele am Schweizer Fernsehen gezeigt. Das Turnier beginnt am gleichen Tag, an dem Neil Armstrong auf dem Mond landet (20. Juli).
1973 ist das Teilnehmerfeld hochkarätig, weil viele Spitzenspieler Wimbledon boykottieren und nach Gstaad kommen.
1980: Heinz Günthardt ist der erste Schweizer, der seit dem Krieg den Final gewinnt.
1988: Ein Fehlschlag trifft niemand geringeres als den damaligen Bundespräsidenten Pierre Aubert am Bauch. Es ist keine politische Attacke. Aubert bleibt unverletzt und kann dem Sieger den Pokal übergeben.
1984: Das Frauenturnier wird als Reaktion auf die Wettbewerbe in Lugano und Zürich abgeschafft.
2003: Wimbledon-Sieger Federer erhält eine Kuh namens Juliette.
2005: Das Turnier erzielt einen Verlust von 1,2 Mio. Franken und muss Anfang 2006 die Nachlassstundung einreichen.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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