Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wenn Kunst der Aborigines auf Absinthdämpfe trifft

Die "Kultur-Botschaft" Australiens befindet sich in Môtiers. swissinfo.ch

Im Neuenburger Dorf Môtiers befindet sich – neben einem in Holland – das zweite europäische Museum, das ausschliesslich der Kunst der australischen Urbevölkerung gewidmet ist. Überraschend, doch ein Umweg lohnt sich. swissinfo.ch hat das Museum besucht.

Môtiers hat nichts gemeinsam mit der Weite der roten Wüsten Australiens, ausser vielleicht der weiten Entfernung von den grossen Städten.

Das Dorf mit seinen 800 Einwohnern zuhinterst im Val de Travers, einem der “Outbacks” der Schweiz, ist sonst eher bekannt für seine Uhrmachertradition und gilt als Hochburg der “grünen Fee”, des Absinths.

In seinen Strassen, zwischen dem Absinth-Museum und jenem für den Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau, wird aber auch einem anderen Kulturerbe die Reverenz erwiesen: der Kunst der australischen Aborigines.

Im Museum de La Grange, in einem Nebengebäude des Château d’Ivernois, ist gegenwärtig die persönliche Ausstellung des 39-jährigen Dennis Nona zu entdecken. Er stammt von einer Insel in der Torres-Strasse am nördlichsten Zipfel Australiens.

“Weil er aus einem Volk des Meeres stammt, hat er angefangen, Skulpturen auf Schiffsholz und Werkzeugen zu machen”, sagt Theresa Burkhardt-Felder, die Gründerin des Museums.

“Verwurzelt in der Kultur seiner Heimat hat er das Wissen seiner Ahnen in Linolschnitt und Radierung einfliessen lassen. Nona erschafft komplexe Werke, die durch die von Hand aufgetragenen Farben fast dreidimensional wirken. Er überträgt die Mythen und Legenden seiner Insel in ein einziges Kunstwerk, das grafisch praktisch eine ganze Geschichte auf mehreren Ebenen erzählt.”

“Waii”, der Titel der Ausstellung, heisst “Gezeiten”, ist aber auch der Name eines mythischen Kriegers von der Insel des Künstlers. Ausgestellt sind etwas über fünfzig Werke: Fische, Muscheln oder stilisierte Vögel, die einerseits Südseestimmung verbreiten, andererseits mit ihren Bezügen auf Ahnengeister auch irgendwie göttlich wirken. Eindrücke, die im Val-de-Travers zu einem regelrechten Kulturschock führen können.

Zeugen einer Epoche

Theresa und Gérard Burkhardt-Felder hatten im Jahr 2000 nach 25 Jahren in Australien ihre Koffer in Môtiers abgestellt. Sie waren auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ihre Sammlung von mehreren hundert Kunstwerken der Aborigines unterbringen konnten. Das Paar kaufte und renovierte dafür das Château d’Ivernois aus dem 18. Jahrhundert und schuf die Stiftung “Burkhardt-Felder Arts et Culture”.

“Wir sind 1981 nach Australien ausgewandert”, erzählt Theresa Burkhardt-Felder. “Wir hatten grosses Glück, denn in jener Zeit, in der wir uns für die Kunst des Landes zu interessieren begannen, durften wir Zeitzeugen einer Epoche grosser Entwicklungen in der Kunst der Ureinwohner sein.”

Mit ihrer 60’000 Jahre langen Geschichte, die ohne Schrift auskam, ist die Kultur der Aborigines eine der ältesten der Welt. Die Traditionen und Legenden der Aborigines, “Traumzeit” genannt, wurden der nächsten Generation durch Zeichnungen im Sand, Höhlenmalereien und in einigen Regionen auf Rinden weitergegeben. Wichtiger allerdings war die Körperbemalung für Zeremonien, basierend auf Ocker, einem Material, welches das gleiche Prestige genoss wie Gold im Westen.

Symbolische Abstraktion

“Diese Volksstämme haben sich immer wieder neu erfunden, indem sie sich auf ihre Urahnen bezogen, die aus der Erde gekommen sind und diese bewohnbar gemacht haben”, sagt Burkhardt-Felder. “Ihre Mythen und Legenden sprechen von Regenmachern, von Sternen-Konstellationen und Naturphänomenen. Ihre Malereien beziehen sich immer auf die Erde, die Natur, die Tiere – in einer Art symbolischer Abstraktion.”

Diese absolut vergängliche Kunst wird erst seit den 1970er-Jahren anerkannt, als die aus ihren Territorien vertriebenen Stämme ermutigt wurden, auf verschiedenen anderen Materialien zu malen. Man stellte ihnen modernes Material zur Verfügung: Leinwände und Acrylfarben. “Das erlaubte ihnen, viel komplexere und innovativere Werke herzustellen und der Welt eine Vielfalt ihrer Kultur zu zeigen, weil ihre Kunst – endlich – reisen konnte.”

Als das Heimweh nach der Schweiz zu gross wurde, kam das australisch-schweizerische Paar zurück, “mit dem Wunsch, etwas für Australien und seine einheimische Kultur zu unternehmen, zum Beispiel, indem wir diese in der Schweiz besser bekannt machen”.

Spezifische Themen

Das Museum de La Grange öffnete 2008 seine Pforten. “Wir haben mit thematischen Ausstellungen angefangen”, erzählt Burkhardt-Felder.

“Wir wollten den spirituellen Glauben dieser Stämme und die grosse Vielfalt zwischen den Regionen zeigen und erklären. So ist die Kunst der Halbnomaden der Wüsten eher abstrakt, minimalistisch, weil ihr Blick auf keine Hindernisse trifft und sehr weit gehen kann. In den Regionen des tropischen Regenwaldes ist die Kunst viel bildhafter. Und an den Meeresküsten berufen sich die Aborigines noch einmal auf andere Wurzeln.”

Teilweise gebe es auch Gruppen, die gemeinsam malten, um ein bestimmtes Ritual oder die Liebe zum Boden auszudrücken, als dessen traditionelle Hüter sie sich verstehen würden.

Seit etwa 20 Jahren haben sich verschiedene Künstler deutlich weiterentwickelt, und mit ihnen sind die Preise für ihre Werke gestiegen. Die bekannteste, die Anwältin Emily Kame Kngwarreye, hatte in den 1990er-Jahren, als sie bereits weit über 70 Jahre alt war, mit dem Malen angefangen. Sie war eine der ersten, die moderne Techniken anwandte. Sehr bald erkannte man ihr Talent als Koloristin, und sie war als Ehrengast an die Biennale in Venedig eingeladen worden.

Die Kunst der Aborigines habe der traditionellen Kunst neue Impulse gegeben, sagt Theresa Burkhardt-Felder. “Heute gilt sie nicht mehr als ethnographisch, sondern als zeitgenössisch. Die Künstler verbinden ihren überlieferten Glauben mit aktuellen Interpretationen.”

Etwa 2000 Personen finden jährlich zwischen Juni und November den Weg ins Museum. “Das sind noch nicht viele, doch die Anzahl der Besuchenden steigt an; und jene, die bis hierhin gekommen sind, bereuen es nicht”, kommentiert die Schlossherrin.

Ende des 18. Jahrhunderts kolonialisierten die Briten Australien. Sie bezeichneten das Land als “leer”. Von diesem Prinzip kam man erst 1992 ab, doch den Ureinwohnern Australiens ist ein Grossteil ihrer ursprünglichen Länder noch immer nicht zurückgegeben worden.

Die Aborigines, die halb-sesshaft entlang der Küsten, in den Buschländern und Wüsten gelebt hatten, fanden zu Tausenden bei Epidemien und Massakern den Tod. Und im 20. Jahrhundert wurden tausende Kinder aus ihren Familien gerissen.

1967 befürworteten über 90% des australischen Stimmvolks ein Referendum, das den Ureinwohnern das Stimmrecht zusprach.

Die letzte symbolische Anerkennung fand 2008 statt, als sich die Regierung offiziell für jahrhundertelange Massaker, Verfolgung und Rassismus entschuldigte.

Heute machen die Aborigines 2,5% der Bevölkerung aus. Von den 517’000 Personen leben 69% in den grossen städtischen Gebieten.

Der durchschnittliche Wochenlohn eines Ureinwohners beträgt 278 australische Dollars, 59% des Durchschnittseinkommens der eingewanderten Bevölkerung.

(Quelle: Australische Menschenrechts-Kommission, Statistik 2006)

Waii – Stiche von Dennis Nona. Über 50 Radierungen und Linolschnitte.

Der Künstler wurde 1973 geboren – auf einer der Inseln in der Torres-Strasse, die zu Australien gehören. Die Stämme auf diesen Inseln werden auch von der melanesischen Kultur beeinflusst.

Werke von Nona werden in allen nationalen Museen Australiens sowie in verschiedenen wichtigen Sammlungen im Ausland gezeigt. Besonders in Frankreich hat er bereits viel ausgestellt.

Gegenwärtig bereitet sich der Künstler in Brisbane, Queensland, auf den Abschluss seines Masters in bildender Kunst vor.

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft