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Jenseits des Regenbogens

Gottlieb Emil Rittmeyer (1820-1904): Stubete auf Alp Sol (Zusammenkunft der Volksmusik auf der Alp Sol) Kunstmuseum St. Gallen

Eine Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen ist einem ungewöhnlichen Thema gewidmet: dem Glück. Gezeigt werden klassische und zeitgenössische Werke, die zum Nachdenken über dessen Einfluss beim künstlerischen Schaffen auffordern.

Over the Rainbow ist wohl eines der Lieder mit den meisten Versionen und Aufnahmen der Geschichte. Die legendäre Judy Garland erhob es 1939 zur universellen Hymne und das Kunstmuseum St.Gallen wählte es für seine Ausstellung.

“Glück steht im Mittelpunkt”

“Wir möchten alle glücklich sein und der Routine entfliehen. Dies entspricht einem allgemeinen Wunsch.” So erklärt Konrad Bitterli, einer der Betreuer von

Over the Rainbow, die Entstehung dieser Ausstellung.

“Ich glaube, dass Glück ebenso wie das Verlangen nach Frieden und Besonnenheit im Mittelpunkt des menschlichen Wohlbefindens stehen. Das sehen wir zumindest ständig im Fernsehen und in romantischen Komödien. Mit Werken des 19.Jh. an der Seite zeitgenössischer Kunstwerke erkundet diese Ausstellung die Flucht vor Sorgen und dem Alltagsleben”, erläutert er Bitterli.

Die Ausstellung ist “ein unerwarteter, reizender und sogar unterhaltsamer Dialog zwischen hervorragenden Kunstwerken verschiedener Epochen zu Augenblicken des Glücks wie Geburten, vereinte Familien, Tanz oder die Beziehung zur Natur.”

Das Museum zeigt u.a. Meisterwerke der Schweizer Cuno Amiet, Ferdinand Hodler und Robert Zünd sowie von Max Liebermann, einem der wichtigsten Vertreter des deutschen Impressionismus. Daneben finden wir Gegenwartskunst der Israelin Yael Bartana, der Südafrikanerin Candice Breitz, des Kubaners Felix González-Torres oder des Schweizers Beat Streuli oder können aufstrebende Künstler wie Georg Gatsas oder Barbara Signer entdecken.

Glück – heute und gestern

War das Glück unter den Künstlern des 19.Jh. ein beliebteres Thema als heute? “Das glaube ich nicht. Ich denke, dass wir Menschen uns seither kaum verändert haben. Wie die ausgestellten Werke einiger der aufstrebenden Künstler zeigen, ist es nach wie vor ein beliebtes Sujet”, meint Konrad Bitterli.

“Die Mittel, um Glück darzustellen, haben sich geändert. Doch von der Malerei bis zum Video und der Fotografie ist der Antrieb oft derselbe. Es stimmt hingegen, dass Bilder des 19.Jh. glückliche Mütter mit Kleinkindern in Blumenlandschaften darstellten, die kaum der harten Wirklichkeit des damaligen Lebens entsprachen”, sagt Bitterli.

Idyllische Landschaften

Ist die Schweiz ein Land, das mehr zum Kontakt mit der Natur und idyllischem Glück neigt? “Ich glaube nicht, dass dies etwas spezifisch Schweizerisches ist, auch wenn paradiesische Bilder von Kühen und Landschaften als Teil unserer Identität benützt werden. In Wirklichkeit lebt heute die Mehrheit der Schweizer in einer städtischen Umgebung.”

Laut Konrad Bitterli ist das Anliegen der Ausstellung, “hinter das zu sehen”, was die Werke darstellen: die Wirklichkeit harter Arbeit und der Entbehrungen, die sich hinter vielen Werken verbergen, vor allem denjenigen mit Bauernfamilien.

“In der Tat erzählt Over the Rainbow eine Geschichte der Wirklichkeitsflucht; denn wie im Lied träumen wir alle von einem idealen Ort, der nur in Wiegenliedern vorkommt”, meint Bitterli.

Erbe der Deutschen und der Romantik

Der Schweizer Nationalökonom und Professor am Warwick College in London sowie an der Zeppelin University in Friedrichshafen (Deutschland), Bruno S. Frey, wählte Glück zu seinem zentralen Forschungsthema.

“Das Endziel der Wirtschaft besteht darin, die Menschen glücklich zu machen. Ihr Ziel ist nicht die Produktion von Waren und Dienstleistungen, sondern die menschliche Befriedigung. Das Finanzsystem besteht nur deshalb, damit die Welt besser funktioniert. Es ist offensichtlich, dass dies gegenwärtig nicht der Fall ist”, erklärt er gegenüber swissinfo.ch.

  

“Ich glaube, dass Glück in erster Linie mit anderen Menschen verbunden ist. Glück erzeugen unsere Beziehungen zu Freunden, Liebhabern oder zur Familie, was die im Kunstmuseum St. Gallen ausgestellten Werke zeigen.”

Zur angeblichen Vorliebe der Schweizer für die Natur und das Idyllische meint Bruno S. Frey, dass dies nicht typisch schweizerisch sei, sondern eher zur deutschen Kultur gehöre. “Sie ist ein Erbe der Romantik.”

“Nur Idioten können glücklich sein”

Bei Diskussionen über die Beziehung zwischen Glück und Kunst fällt auf, dass ersteres für intellektuelle Kreise kein würdiges Thema zu sein scheint.

“Das stimmt”, bestätigt Frey. “Intellektuelle fühlen sich bei der Idee des Glücks nicht besonders wohl. Sie passt ihnen nicht. Und vor allem Künstler scheinen grosse Anstrengungen zu unternehmen, um zu leiden. Einmal mehr verdanken wir dies der romantischen Vorstellung vom leidenden Kunstschaffenden.”

“Wir scheinen auch zu glauben – v.a. in der deutschen Kultur -, dass nur unglückliche Menschen produktiv und effizient sein können”, sagt Frey.

“Doch in der Tat pflegen Künstler glücklicher zu sein als der Durchschnitt der Menschen, weil sie tun, was ihnen tatsächlich gefällt. Niemand wurde je gezwungen, Künstler zu werden.”

Zum geringen Ansehen des Glücks unter Intellektuellen sagt Frey: “General De Gaulle sagte einmal: Nur Idioten können glücklich sein. Dies ist eine typisch französische Ansicht. Die angelsächsische Welt vertritt sie nicht so ausgeprägt. Eigentlich sind glückliche Menschen kreativer als unglückliche. Dennoch bin ich der Auffassung, dass Kunstschaffende bipolar sind; denn sie fallen von einem Extrem ins andere. ‘Normale’ Menschen sind weniger Gefühlsschwankungen ausgesetzt.”

Die Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen zeigt Werke, die sich mit den Begriffen Glück und Wohlbefinden auseinandersetzen.

Bilder, Fotografien und Videoinstallationen befassen sich mit Befriedigung, Freude und idyllischem Leben über die Jahrhunderte.

Zu den klassischen Künstlern gehören u.a. die Schweizer Ferdinand Hodler und Robert Zünd; zu den Gegenwartskünstlern die Südafrikanerin Candice Breitz, die Israelin Yael Bartana oder der Schweizer Fotograf Georg Gatsas mit seinen Bildern von Menschen beim Tanz an Festen.

Die von Konrad Bitterli und Nadia Veronesa betreute Ausstellung Over the Rainbow steht dem Publikum bis zum 28.Oktober offen.

In seiner Forschungsarbeit geht Frey über die neoklassische Nationalökonomie hinaus und bezieht auch Politik-, Naturwissenschaften, Psychologie und Soziologie mit ein.

Er ist u.a. Professor am Warwick College in London und an der Zeppelin University in Friedrichshafen.

Zu seinen Veröffentlichungen gehören “Happiness: a Revolution in Economics” (2008) und “Happiness and Economics” (2002).

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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