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Bericht der Bergier-Kommission zur Flüchtlingspolitik in der Nazizeit veröffentlicht

Die Entscheidungsträger der Schweiz sahen während des Zweiten Weltkrieges in den Flüchtlingen eher eine Bedrohung als schutzbedürftige Verfolgte. Eine menschlichere Politik wäre gemäss Bergier-Bericht möglich gewesen.

Die Entscheidungsträger der Schweiz sahen während des Zweiten Weltkrieges in den Flüchtlingen eher eine Bedrohung als schutzbedürftige Verfolgte. Eine menschlichere Politik wäre gemäss Bergier-Bericht möglich gewesen. Sie hätte vielen Tausend Flüchtlingen das Leben gerettet.

Von einer kollektiven Verantwortung der Schweizerinnen und Schweizer für die Flüchtlingspolitik sollte man indes nicht sprechen, unterstreicht der am Freitag (10.12.) – am UNO-Menschenrechtstag – in Bern veröffentlichte Flüchtlings-Bericht der von Jean-Francois Bergier geleiteten unabhängigen Expertenkommission.

Antisemitismus spielte wichtige Rolle

Die harte Haltung der Schweizer Behörden gegenüber Flüchtlingen, vorab gegenüber Juden, und die damit verbundene völlige Schliessung der Grenzen in den Jahren 1942-44 sei nicht nur mit der schwierigen militärischen und wirtschaftlichen Lage der Schweiz im Krieg zu begründen, hält die Bergier-Kommision in ihrem Bericht fest. Ein wichtiger Faktor sei auch der Kampf gegen die Überfremdung und “Verjudung” der Schweiz gewesen, dem sich die schweizerische Fremdenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg verschrieben habe. Ein latenter Antisemitismus habe darauf abgezielt, die Präsenz der Juden in der Schweiz zu beschränken.

Handeln der Behörden stimmte weitgehend mit der “geltenden” Rechtsordnung überein

Wie es in dem rund 350 Seiten starken Bericht “Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus” weiter heisst, stimmte die schweizerische Flüchtlingspolitk in ihren grossen Leitlinien mit der damaligen Rechtsordnung überein. Die Schweiz sah sich damals als Transitland für Flüchtlinge, individuellen Rechtsanspruch auf Asyl gab es nicht.

In einigen Fällen wurde aber auch gegen die Grundsätze der schweizerischen Rechtsordnung verstossen. So setzten sich die Behörden 1938 beim Abkommen mit Nazideutschland über die Einführung des J-Stempels in den Pässen von deutschen Juden und bei der Anerkennung der Ausbürgerung Deutscher Juden 1941 über juristische Bedenken hinweg.

Ermessensspielräume wurden meist nicht zu Gunsten der Flüchtlinge genutzt

Vollmachtenregime, Pressezensur und andere Notmassnahmen gaben politischen und militärischen Behörden weitreichende Kompetenzen. Dabei gab es laut Bericht der Bergier-Kommission auf allen Ebenen grossen Ermessensspielraum, der – trotz Ausnahmen – in der Regel nicht zu Gunsten der Flüchtlinge genutzt wurde.“ Dass dieser (Ermessensspielraum) nicht zu Gunsten der Flüchtlinge genutzt wurde, war ein politischer Entscheid”, hält die Bergier-Kommission in ihrem Bericht fest.

Über 24’000 Schutzsuchende seien zurückgeschafft worden – in die Hände der Nazis. Dies obschon die Schweizer Behörden ab Sommer 1942 über Judendeportationen und -vernichtungen im Bilde gewesen seien. Die Schweizer Behörden hätten mit ihrer restriktiven Flüchtlingspolitik – beabsichtigt oder nicht – dazu beigetragen, dass das NS-Regime seine Ziele erreichen konnte. “Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Öffnung der Grenze einen Angriff der Achsenmächte provoziert oder unüberwindbare Schwierigkeiten verursacht hätte”, heisst es im Bericht.

Das humanitäre Engagement

Auf der anderen Seite stand die humanitäre Asyltraditon der Schweiz. Sie war – gemäss Bericht – ein Motiv für das Engagement zahlloser Schweizerinnen und Schweizer aus allen sozialen, politischen und konfessionellen Milieus, den Flüchtlingen Hilfe zu leisten und dabei das Risiko illegaler Handlungen in Kauf zu nehmen.

Private Hilfswerke mussten bis 1942 zur Hauptsache die Kosten für die rund 51’000 während des Krieges aufgenommenen Zivilflüchtlinge (darunter etwa 20’000 Juden) tragen. Sie gaben 1933 bis 1947 rund 70 Millionen Franken dafür aus. Davon kamen 46 Millionen vom Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen, der mehr als die Hälfte vom amerikanischen Hilfswerk AJJDC erhielt.

Auch Lösegeldgeschäfte liefen über die Schweiz

Eine spezielle Rolle spielte die Schweiz auch bei sogenannten Lösegeldgeschäften: Um Devisen zu erhalten, gingen die Nazis bisweilen auf Geschäfte zum Freikauf von Juden ein. Solche Geschäfte liefen teilweise über die Schweiz.

Keine Hinweise hat die Bergier-Kommission dafür gefunden, dass Juden aus Italien und Frankreich per Bahn durch die Schweiz in die Vernichtungslager deportiert wurden.

SRI und Agenturen

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