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Drama von Locarno löst hitzige Diskussionen aus

Keystone

Der Tod eines jungen Mannes, der am Karneval von Locarno von drei Gleichaltrigen zusammengeschlagen worden war, hat in der Region und der ganzen Schweiz Betroffenheit ausgelöst.

Für die Bluttat scheint es im Moment noch kein Motiv zu geben. Die Behörden haben drei balkanstämmige Tatverdächtige festgenommen. Ihre Herkunft heizt die öffentliche Meinung an.

“Wir sind nicht mehr dieselben”, sagte die Stadtpräsidentin von Locarno, Carla Speziali am Sonntag an einer Gedenkveranstaltung. Mit diesem einfachen Satz fasst sie die Gefühle der Öffentlichkeit nüchtern zusammen.

Die Gefühle reichen von Bestürzung über Unverständnis, Wut bis Schmerz. Gefühle, die am Sonntagnachmittag am Schweigemarsch, an dem rund tausend Personen teilnahmen, deutlich zu spüren waren.

Wenige Tage nach der brutalen Schlägerei sind noch viele Fragen offen. Auch die Politik schwankt zwischen emotionsgeladenen Äusserungen und den sachlichen Erklärungsversuchen hin und her.

Alle rufen nach Gerechtigkeit, aber nicht jeder will sie auf dieselbe Weise erreichen. Carla Speziali verlangt, dass Damiano Tamagnis Tod nicht politisch instrumentalisiert wird.

Suche nach dem Motiv

Die Abstammung der drei Angreifer, zwei sind eingebürgerte Schweizer, hat grosses Aufsehen erregt. Einer von ihnen soll vorbestraft sein. Über das Motiv der drei Täter gibt es keine Angaben.

Die Behörden hüllen sich zurzeit in Schweigen, auch was die Rekonstruktion des Tathergangs betrifft.

Damiano wurde verprügelt und in einer Altstadt-Gasse liegengelassen, in der sich viele Menschen aufhielten. Die drei Täter konnten sich ungestört entfernen und feierten an einem anderen Ort weiter. Innert weniger Stunden wurden sie allerdings von der Polizei gefasst, obwohl sie maskiert waren.

Nulltoleranz

Im Tessin wurden Stimmen laut, die nach schnellen und exemplarischen Sanktionen rufen. Solche schweren Gewaltexzesse seien schlicht nicht akzeptierbar.

Man dürfe deswegen aber auch nicht einem Rassismus, der Hass aufbaue (und Hass bedeutet Gewalt), Tür und Tor öffnen. Denn diese Gewalt könnte sich auf die aus dem Balkan stammende Bevölkerung entladen.

Die Lega dei Ticinesi und die Schweizerische Volkspartei (SVP) verlangen, die Aggressoren auszuweisen und ihnen die Schweizerische Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Die Lega kritisiert auch die geringen Anforderungen zur Erlangung der schweizerischen Nationalität sowie die mangelnde Integration der Menschen aus anderen Kulturkreisen.

Deutliche Worte sprach auch der Tessiner Innenminister Luigi Pedrazzini: “Es ist nicht legitim, alle Kroaten oder Bosnier als gewalttätig zu bezeichnen. Aber es ist unbestreitbar, dass wir mit einigen Bürgern aus Ex-Jugoslawien Probleme haben.”

Keine Hexenjagd

Besonnene rufen dazu auf, keine Schmutzkampagne gegen eine Bevölkerungsgruppe zu beginnen und keine gefährlichen Hexenjagden vom Zaum zu reissen, wie es in einzelnen Tessiner Blogs im Internet bereits geschehen ist.

Es sei nötig, dass die Justiz ihre Arbeit ohne Druck verrichten könne. “Denn es ist ein Fehler, Schlüsse zu ziehen, wenn nicht alle Fakten bekannt sind”, sagte der Präsident der Tessiner Integrationskommission, Fulvio Pezzati.

swissinfo, Françoise Gehring, Locarno
(Adaption aus dem Italienischen: Etienne Strebel)

Während das Drama von Locarno die Öffentlichkeit im Tessin und der ganzen Schweiz immer noch beschäftigt und teilweise auch rassistische Reaktionen hervorruft, kommt von der Familie des Opfers ein Zeichen menschlicher Grösse.

In einem offenen Brief an die Medien ruft die Familie “im Respekt vor Damiano und unserem grossen Schmerz” dazu auf, “seinen tragischen Tod nicht zum Schüren von Hass und Rassismus zu instrumentalisieren”.

Für die drei mutmasslichen Täter, die bosnische und kroatische Wurzeln haben, fordern die Eltern exemplarische Strafen. “Die Mörder unseres Sohnes sollen von der Justiz als Personen verurteilt werden, unabhängig von ihrer Herkunft.”

Und weiter schreiben die Eltern: “Wir wünschen, dass der Tod Damianos zum Anlass genommen wird, der Kultur der grundlosen Gewalt von den Schulen bis zu den Sportanlässen ein Ende zu setzen.”

Das Bundesgesetz über den Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts sieht die Möglichkeit des Entzugs der Staatsangehörigkeit vor.

Einem Doppelbürger kann das Schweizer Bürgerrecht nach Artikel 48 des Bürgerrechtsgesetzes entzogen werden, wenn sein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz “erheblich nachteilig” ist.

Der Entzug des Schweizer Bürgerrechts ist jedoch nur in einem gravierenden Fall denkbar, so z.B. gegenüber einem verurteilten Kriegsverbrecher.

Gegenüber Ausländern sieht das Bundesgesetz über Ausländerinnen und Ausländer eine Reihe von Massnahmen vor: Verbot der Einreise in die Schweiz, Widerruf der Aufenthaltserlaubnis oder deren Nicht-Verlängerung.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat eine Initiative “Für die Ausschaffung krimineller Ausländer” lanciert, die Unterschriftensammlung läuft.

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