Freispruch gefordert

Im Prozess wegen des "finalen Rettungsschusses" in Graubünden plädieren Anklage und Verteidigung beide für Freispruch.
Der Bündner Polizei-Kommandant Markus Reinhardt hatte im März 2000 den Befehl für den Todesschuss auf einen Amokschützen gegeben. Der junge Mann wurde auf Befehl Reinhardts von einem Scharfschützen mit Teilmantel-Munition aus 54 Metern Distanz tödlich am Kopf getroffen.
Zuvor hatte der arbeitslose Metzger mit seinem Sturmgewehr während fast 10 Stunden rund 70 Polizisten in Schach gehalten. Bei Versuchen der Polizei, die Wohnung des Mannes zu stürmen oder zu sichern, wurden zwei Grenadiere schwer verletzt und ein Polizeihund getötet.
Nun hatte das Bündner Kantonsgericht den in der Schweiz erstmals abgefeuerten «finalen Rettungsschuss» in Chur zu beurteilen.
Anklage findet Tat verhältnismässig
Der die Anklage vertretende frühere Zürcher Staatsanwalt Robert Akeret sagte vor dem Gericht, der Polizeikommandant habe mit seinem Befehl zum «finalen Rettungsschuss» verhältnismässig gehandelt.
Die Polizei habe es mit einem äusserst gefährlichen und unberechenbaren Täter zu tun gehabt, der auf Polizeigrenadiere geschossen und zwei davon schwer verletzt habe.
Der 22-jährige Amokschütze habe sich damit des mehrfachen Tötungsversuchs und der mehrfachen schweren Körperverletzung schuldig gemacht. Im Tagesverlauf habe sich die bedrohliche Lage laufend verschärft. Als der Täter um 17.40 Uhr auf seinen Balkon trat, waren laut Akeret durchaus Anzeichen zum weiteren Einsatz der Waffe vorhanden. Es habe also eine akute Notwehrsituation bestanden.
Verteidiger weist auf grosse Gefahr hin
Auch Reinhardts Verteidiger Lorenz Erni begründete seine Forderung nach Freispruch damit, dass vom Täter die ganze Zeit eine grosse und akute Gefahr ausgegangen sei. Reinhardt habe verhindern wollen, dass der Amokläufer weitere Menschen an Leib und Leben gefährde oder sogar töte. Der Schiessbefehl sei deshalb rechtmässig gewesen.
Bruder des Getöteten plädiert für schuldig
Der Rechtsvertreter des Vaters und des Bruders des getöteten Amokschützen plädierte als einziger auf Schuldspruch und bezeichnete den Schiessbefehl als nicht verhältnismässig. «Es gibt weder auf Bundes- noch auf Kantonsebene ein Gesetz, das den finalen Rettungsschuss regelt», sagte Jean-Pierre Menge. Deshalb könne sich der Angeklagte auch nicht auf Notwehr berufen.
«Es gab andere Möglichkeiten als den gezielten Todesschuss, um den Amoklauf zu stoppen», sagte er. Der Mann sei deshalb widerrechtlich getötet worden. Dem Vater und dem Bruder des Getöteten müssten daher je 50’000 Franken Genugtuung gezahlt werden.
In seinem Schlusswort hielt der angeklagte Polizeikommandant fest, dass er nach reiflicher Überlegung sowie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe und auch heute noch zu diesem Entscheid stehe. «Ich wollte nicht a priori, dass der Täter getötet wird und bedaure, dass es dazu kommen musste», sagte er.
Das Urteil wird am Donnerstag eröffnet.
swissinfo und Agenturen

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