Renens macht seine Ausländer zum Trumpf

In der Nordtürkei gingen sie als Kinder zusammen zur Schule. Heute arbeiten Mehmet Sahingoz und Cemal Ozcan gemeinsam in Renens. Die Waadtländer Gemeinde versucht, ihre multikulturelle Basis positiv zu nutzen.
Es fehlen noch einige Stunden bis zum mittäglichen Kundenansturm im Restaurant des Einkaufszentrums. Ein Mann, leicht ergraut, nutzt die Gunst der ruhigen Stunde und liest die Zeitung. Einige Tische weiter erfreuen sich Damen in schweren Mänteln an einer Tasse Kaffee.
«Auch sie stammen aus Pasali, unserem Geburtsort am Schwarzen Meer», sagt Cemal Ozcal, und lächelt ihnen zu. «Ich glaube, dort sind nicht mehr allzuviele geblieben. Wir leben inzwischen praktisch alle in der Schweiz.»
Als Studenten gekommen
Cemal gehört zusammen mit seinem Freund aus Kindertagen, Mehmet Sahingoz, zur ersten Generation von Studenten, welche die Türkei verliess. «Vor über 25 Jahren bin ich weg, um an Schweizer Universitäten meine Studien zu beenden.»
Die türkische Gemeinde in Renens, deren Kulturzentrum Cemal seit einigen Jahren leitet, umfasst rund 800 Personen. «Ausser den anfänglichen Sprachproblemen hatten wir Junge kaum Integrationsschwierigkeiten», erinnert er sich.
«Für die Frauen, die erst später zu uns stiessen, war es hingegen komplizierter. Ihre Mentalität ist viel stärker an die Gewohnheiten und Traditionen von zuhause gebunden.»
Adoptierte Schweizer
Cemal und Mehmet erachten sich als «adoptierte» Schweizer: «Früher lasen wir eigentlich nur türkische Zeitungen, heute interessiert uns nur der Schweizer Alltag». Neben ihrem Mechanik-Gewerbe beschäftigen sich die beiden viel mit Integration.
So werden zum Beispiel in den Lokalitäten des türkischen Zentrums Französischkurse angeboten. Eine Lehrerin trifft sich ausserdem regelmässig mit den ausländischen Müttern, um sie mit den Angeboten der Gemeinde und den Regelungen der Schule bekannt zu machen.
«Als Mitglied des Gemeinderats und der Kommission für die Integration der Ausländer in der Schweiz versuche ich auch politisch mein Bestes zu geben», sagt Cemal.
Übersetzer in der Schule
Mit einem Anteil von über 50% weist Renens eine der höchsten Ausländerquoten des Landes auf. «Dieser hohe Migrationsanteil hat mit der Geschichte Renens zu tun, als Industrie- und Arbeiter-Gemeinde», sagt Marta Pinto gegenüber swissinfo.
Die Gemeinde-Delegierte für Integration verweist auf die 1960er-Jahre, als Schweizer und Ausländer gemeinsam auf Baustellen und in Fabriken arbeiteten. «Es gab weniger Unterschiede in sozialer und beruflicher Sicht. Das Nebeneinander konnte sich friedlicher entwickeln.»
Trotz dem knappen Geld, so Pinto, hätten die Behörden immer ein waches Auge für Integrationsaspekte gehabt, besonders im schulischen Bereich.
Dies bestätigt auch Violette Doy. Die 90-Jährige hat 60 Jahre ihres Lebens in Renens verbracht. «Die ersten, die kamen, waren die Italiener. An den Schulen haben wir sofort italienischsprachige Übersetzer eingestellt», erinnert sich die ehemalige Gemeinde-Verantwortliche für Schule und Jugend.
Grosse Lust am Lernen
Um zu schauen, wie es in der Schule aussieht, begeben wir uns in die Turnhalle des Collège du Léman. Dort haben die Schüler von Marie-Claude Golaz Roland gerade ihre letzte Halbzeit im Fussball-Fairplayturnier beendet. Golaz Roland ist für die Eintrittsklassen für Ausländerkinder verantwortlich.
Die Mannschaft des jungen Kosovo-Albaners Astrit hat wieder verloren – deshalb ist er bekümmert. «Macht doch nichts», tröstet ihn die Lehrerin, «was zählt, ist das faire Spiel».
Zwar ist Astrit enttäuscht, aber in der Gruppe herrscht ein gutes Klima. Dieses scheint sich auch im Klassenzimmer fortzusetzen. «Ich kümmere mich um eine Schülergruppe, die vor allem aus Portugiesen und Kosovaren besteht. Alle haben grosse Lust am Lernen. Ich muss zugeben, manchmal ist es einfacher, Eintrittsklassen zu unterrichten als jene so genannt normalen», sagt Golaz Roland.
Anisa, seit einem Jahr in der Schweiz, erinnert sich noch an ihre ersten Tage in Renens: «Da ich kein Französisch verstand, dachte ich immer, dass mich alle auf den Arm nehmen». Jetzt geht es schon viel besser, und in einigen Monaten wird Anisa soweit sein, in den normalen Schulalltag aufgenommen zu werden.
Kamerun oder Berner Oberland
«In Renens sind die Ausländer immer stark gewertet worden», sagt Mario Pinto. «So hat man die Multikulturalität zum Atout der Gemeinde gemacht.» Diese Denkweise äussert sich auch im Banner, für den sich Renens entschieden hat: «Renens – Kreuzweg der Welt (Carrefour du monde).»
«Integration bedeutet auch, dass einer vom anderen den Alltag lernt», sagt Pinto. «Mein Ziel besteht deshalb darin, dass sich die Leute treffen und miteinander sprechen, um zu verhindern, dass sich die einzelnen Sprachgruppen abnabeln.»
Sie sei auch nicht ausschliesslich die Gemeinde-Verantwortliche für die Integration von Ausländern, so Pinto. «Sondern ich befasse mich mit allen Leuten, die nach Renens kommen, ob sie nun aus dem Kamerun oder aus dem Berner Oberland stammen. Die Sprachbarriere ist überall gleich gross.»
Luigi Jorio, Renens
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
In der Woche vom 7.-13. April nimmt die SRG SSR idée suisse das Thema «Integration» in ihren Programmen auf.
Unter dem Titel «Wir anderen – nous autres – noi altri – nus auters» bietet die SRG dem Publikum eine umfangreiche Palette an Beiträgen in der Information, der Dokumentation und der Fiktion.
Auch swissinfo greift das Thema «Integration» in allen 9 Sprachen auf.
Das Bundesamt für Migration hat im Januar eine kontroverse Integrationsstudie veröffentlichst (siehe Link, unten).
Aufgrund verschiedener Indizes wie Arbeitslosenrate, Familienauflösungen, etc. kommt die Studie zum Schluss, dass sich die Integrationsprobleme in erster Linie in den Agglomerationen der Peripherie und nicht in den Städten konzentrieren.
Überraschend erhielt die Gemeinde Renens die schlechtesten Integrations-Noten: Unsicherheit und wenig Kontakt zwischen den Bewohnern und ihrer Gemeinde könnten zu möglichen Konfliktsituationen führen.
Die Kriterien der Studie vernachlässigen die Bemühungen der Gemeinde zur Integration und das Ausländerwahl- und stimmrecht, kontert Renens› Stadtpräsidentin Marianne Huguenin.
Renens als Agglo-Gemeinde von Lausanne zählt 19’000 Einwohner, wovon 53% ausländischen Ursprungs sind.
Das ist schweizweit der höchste Anteil.
In der Gemeinde leben Leute aus 115 Nationen.
Den Hauptharst stellen mit 2000 Personen die Italiener, gefolgt von Portugiesen, Leuten aus den Republiken des ehemaligen Jugoslawien, Spaniern und Türken.
Die erste Einwanderungswelle der 60er-Jahre geht auf die Nachfrage der Industrie, der Autobahn- und Eisenbahn-Baustellen nach Arbeitskräften zurück.
2001 hat Renens eine eigene Integrations-Kommission gegründet.
Wie vierlerorts in der Romandie verfügen Ausländer mit Wohnsitz im Waadtland das Stimm- und Wahlrecht auf Gemeindeebene.

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