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Locarno als gesellschaftspolitisches Abbild

Leoparden für Regisseur Saverio Costanzo (links) und den Hauptdarsteller seines Films "Private", Mohammad Bakri. Keystone

Mit "Private" hat ein Kammerspiel um den Nahost-Konflikt den Goldenen Leoparden am internationalen Filmfestival Locarno gewonnen.

Auch weitere Preise gingen an politisch engagiertes Kino. “Forgiveness” aus Südafrika erhielt den Menschenrechts-Preis.

In ihrem vierten Jahr als Direktorin setzte Irene Bignardi konsequent ein Festival um, das sich als Abbild der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit versteht.

Filme über fremde Kulturen, Völkerverständigung, Menschenrechte und die Rolle des Journalismus nahmen einen breiten Platz im Programm ein.

Auch die 57. Ausgabe des internationalen Filmfestivals Locarno war kein Festival der Stars und der grossen Namen. Bignardi setzte auf Erstlings- und zweite Werke von vorwiegend jungen Regisseuren aus der ganzen Welt.

Mut zu komplexen Themen

In zehn Tagen hat das Festival nicht weniger als 350 Filme gezeigt. In allen Sektionen und selbst im Abendprogramm auf der Piazza Grande dominierten Produktionen, die vor dem Hintergrund politischer und sozialer Konflikte spielen.

Im Wettbewerb hatte die international zusammengesetzte Jury 18 Filme zu begutachten. Ausgezeichnet hat sie konsequent politisches Kino. Dies in einer “friedlichen Atmosphäre, ohne jeglichen Druck von aussen”, wie Direktorin Bignardi bei der Preisverleihung auf der Piazza Grande ausführte.

Dramatisches Kammerspiel um den Nahostkonflikt

Den Goldenen Leoparden erhielt der erste Spielfilm des 29-jährigen römischen Regisseurs Saverio Costanzo. “Private” erzählt die Geschichte einer palästinensischen Familie, deren Haus in der Nähe einer israelischen Militärbasis liegt.

Die israelische Armee besetzt eines Nachts das für sie strategisch vorteilhaft gelegene Haus. Der pazifistische Vater will die Besetzung dulden und hofft auf einen Abzug der Besetzer.

Das Kammerspiel nimmt die Blickwinkel der verschiedenen Familienmitglieder ein und spielt fast ausschliesslich in deren Haus.

Obschon ein Spielfilm – Darsteller sind palästinensische und israelische Schauspieler und Schauspielerinnen – bedient sich “Private” der gestalterischen Mittel des Dokumentarfilms. Costanzo hat ihn in aufgrund einer wahren Begebenheit mit der Handkamera in Israel gedreht.

Mohammad Bakri, einer der bekanntesten palästinensischen Schauspieler, wurde für seine Rolle als Familienvater in “Private” zudem mit dem Leoparden als bester Darsteller ausgezeichnet.

Zum ersten Mal ein Preis für Menschenrechte

Mit dem Silbernen Leoparden für den zweitbesten Film zeichnete die Jury das Pubertätsdrama “En garde” der aus der Türkei stammenden deutschen Regisseurin Ayse Polat aus.

Der Spezialpreis ging an die japanische Produktion “Tony Takitani” von Jun Ichikawa.

Der Film erzählt die Geschichte von Tony, der eine einsame Kindheit verbracht hatte und die modebegeisterte Eiko heiratet.

Tony erlebt den Puls des Lebens, doch Eiko kommt bei einem Autounfall ums Leben. Tony ist wieder einsam. Der Film besticht durch seine Präzision, die gedämpften Farben und die minimalistische Pianomusik von Ryuichi Sakamoto.

Zum ersten Mal wurde dieses Jahr in Locarno ein Menschenrechts-Preis verliehen. Eine eigene Jury hat aus den 22 Filmen zu diesem Thema die südafrikanische Produktion “Forgiveness” ausgezeichnet.

“Forgiveness” beschäftigt sich mit der jüngsten Vergangenheit Südafrikas. Ein von der Wahrheits-Kommission freigesprochener Polizist besucht die schwarze Familie, deren Sohn er im Gefängnis erschossen hatte.

Der Kulturminister und der Schweizer Film

Die in Locarno gezeigten Schweizer-Produktionen warfen keine hohen Wellen. Der einzige Schweizer-Beitrag im Wettbewerb, das Road-Movie “Promised Land” des Tessiners Michael Beltrami, löste eher flaue Reaktionen aus.

Kulturminister Pascal Couchepin hingegen stimulierte mit seiner Kritik an der Filmförderung des Bundes die Diskussionen. Couchepin griff in verschiedenen Interviews die Sektion Film des Bundesamtes für Kultur (BAK) an und warf dem Auswahlverfahren für Produktionsbeiträge Linkslastigkeit vor.

Ein Vorwurf, den verschiedene Filmschaffende umgehend konterten, indem sie auf die Tatsache hinwiesen, dass viele der aktuellen Schweizer-Filme unpolitische Mainstream-Filme seien.

BAK-Direktor David Streiff zeigte sich überrascht über die Vorwürfe. Bundesrat Couchepin hat eine Administrativuntersuchung angeordnet.

Piazza Grande litt unter dem Regen

Ein beliebtes Thema war auch das Wetter: Das Festival bezieht einen grossen Teil seines Charmes aus den Open-Air- Vorführungen auf der Piazza Grande. Dieses Jahr wurden gut die Hälfte der Abende verregnet. Das Publikum konnte sich den Film in einem Saal anschauen oder spannte die Regenschirme auf.

Insgesamt rechnen die Festival-Verantwortlichen dieses Jahr mit rund zwei Prozent weniger Eintritten. Die Eintritte auf der Piazza litten unter dem Regen. Die Vorführungen in den Sälen hingegen verzeichneten Rekordergebnisse.

swissinfo, Andreas Keiser in Locarno

Goldener Leopard für den besten Film des Wettbewerbs: “Private” von Saverio Costanzo (Italien).

Silberner Leopard für den zweitbesten Film: “En garde” von Ayse Polat (Deutschland).

Menschenrechts-Preis: “Forgiveness” von Ian Gabriel (Südafrika).

Publikumspreis für besten Film auf der Piazza Grande: “The Syrian Bride” von Eran Riklis (Israel).

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