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Schweiz-EU – eine noch nie dagewesene Blockierung

Die Studenten zahlen bereits den Preis für den 9. Februar 2014: Das Austauschprogramm Erasmus hat Brüssel auf Eis gelegt, was Schweizer Universitäten betrifft. Keystone

Noch nie haben die Schweiz und die Europäische Union eine so heftige Krise in ihrer Partnerschaft durchlebt. In der gemeinsamen Geschichte gab es immer wieder schwierige Momente, doch die Annahme der "Masseneinwanderungsinitiative" sorgte für Zündstoff. Und eine Lösung ist nicht in Sicht. 

“Eine noch nie dagewesene Blockierung”, erklärt der Schweizer Anwalt Jean Russotto, ein genauer Beobachter der Beziehungen zwischen seinem Land und der EU. Nach dem Nein zum EWR im Dezember 1992 akzeptierte die EU gezwungenermassen das Abenteuer des bilateralen Weges. Doch nach dem Ja des Schweizer Stimmvolkes vom 9. Februar 2014 zur Masseneinwanderungsinitiative “haben wir keinen Partner mehr, mit dem wir wirklich rechnen können. Ein Gefüge droht zu zerbrechen”, fürchtet Russotto.

An die Grenzen gestossen

Eigentlich wurde bereits 2010 durch die EU ein erster Riegel geschoben. Damals befand Brüssel, dass das System der bilateralen, sektoriellen Abkommen, das auf Bern zugeschnitten war, an seine Grenzen gestossen war. Weil in institutionellen Fragen ein Kompromiss über neue Spielregeln fehlt, ist eine weitere Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt in Frage gestellt.   

Gewisse Kreise in Bern scheinen den Willen der EU, die Karten noch einmal neu zu mischen, zu unterschätzen.

Klar ist, dass die Schweiz in Zukunft europäischen, “fremden Richtern” nicht entkommen kann. Sie wird die Macht der Europäischen Kommission, bei ihr liegt die Oberaufsicht über die Verträge und deren richtige Umsetzung, anerkennen müssen.

 Auch bei einer möglichen Kündigung der Verträge wäre der Preis der Schweiz ein sehr hoher, wenn sie Entscheide des Europäischen Gerichtshofs ignorieren würde. 

Das Abkommen über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU ist 2002 in Kraft getreten und bildet einen Kernpunkt innerhalb der Bilateralen Abkommen I.

Mit dem Abkommen erhalten Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich das Recht, Arbeitsplatz und Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen.

Das Schweizer Stimmvolk hat bisher dreimal über die Personenfreizügigkeit abgestimmt: Im Mai 2000 hat es die Bilateralen I und damit auch das Personenfreizügigkeitsabkommen mit grosser Mehrheit gutgeheissen.

Im Jahr 2005 sagten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Ja zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die zehn Staaten, die 2004 der EU beigetreten waren.

2009 wurde auch die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien vom Volk gutgeheissen.

Voraussichtlich im Herbst 2014 wird sich das Stimmvolk zur geplanten Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf das EU-Neumitglied Kroatien äussern.

Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind in 20 bilateralen Abkommen und in rund 100 weiteren Verträgen geregelt.

Füllhorn an Ideen

Bern hofft, befriedigende Kompromisse zu diesen heiklen Fragen zu finden, noch bevor der irische EU-Chefdiplomat David O’Sullivan im November seinen Posten zugunsten einer neuen Tätigkeit in Washington verlässt.

Was es braucht, ist vor allem mehr Zeit und ein Füllhorn an Ideen, um den zweiten Riegel zu lockern, den die Schweiz mit ihrem Entscheid am 9. Februar geschoben hat: Die gutgeheissenen Kontingente für Einwanderer stehen im Widerspruch zur Personenfreizügigkeit, die einen sakrosankten Grundsatz der EU darstellt.

Die Umsetzung der Initiative gegen “Masseneinwanderung”, die spätestens im Februar 2017 in der Schweizer Gesetzgebung in einem Verfassungsartikel verankert wird, bedroht nicht nur den Fortgang der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU, sondern auch das Weiterbestehen von zahlreichen Abkommen, welche die zwei Partner seit 1999 verbinden. Die Annahme der Initiative wurde von der EU sehr schlecht aufgenommen, doch man hat noch nicht alle Brücken abgebrochen.

Alles oder Nichts

Die EU hat die Verhandlungen zum europäischen Forschungsabkommen Horizon 2020 und dem Hochschulprogramm Erasmus+ sistiert. An beiden Programmen wäre die Schweiz vollumfänglich beteiligt gewesen. Doch in Brüssel anerkennt man die Wichtigkeit der Schweiz auf dem europäischen Forschungsplatz und “man denkt über eine ad-hoc-Zusammenarbeit nach, ausserhalb des institutionellen Rahmens, was der Schweiz die Integration in gewisse spezifische Programme ermöglichen würde.” Die EU könnte so ihre eigenen Interessen wahren und gleichzeitig ihren guten Willen gegenüber dem Schweizer Volk zeigen, mit der etwas vagen Hoffnung, dass das Stimmvolk im Rahmen einer Volksabstimmung den neuen Verfassungsartikel über die Zukunft der Europapolitik der Schweiz Ende 2016 per Volksabstimmung noch einmal hinterfragen würde. Der schweizerische Aussenminister Didier Burkhalter, der dieses Jahr auch Bundespräsident ist, hat diese Option angetönt.

“Alles würde auf eine Karte gesetzt, ein Unterfangen, das nicht ohne Risiko ist. Das wäre quasi ein Alles-oder-Nichts-Spiel”, meint Jean Russotto.

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Cartoonisten schauen genau hin

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweizer Zeitungen betonten in ihren Leitartikeln die historische Bedeutung der Abstimmung und die Unsicherheit, die danach herrscht. Die Reaktionen schwankten zwischen dem “schlimmsten Szenario” und einem “Sieg”. Die meisten Zeitungen zogen einen Vergleich zur Abstimmung von 1992, als die Schweiz den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR knapp ablehnte. Ausländische Zeitungen waren mit ihrer Kritik…

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Ein nicht verhandelbares Recht

Die EU hat sich bereit erklärt, die laufenden Verhandlungen mit der Schweiz in verschiedenen Bereichen fortzuführen (Strom, Marktzugang für chemische Produkte, Handel mit CO2-Emmissionen, gentechnisch veränderte Agrarprodukte, Gesundheit und Konsumentenschutz usw.). Doch sie setzt auch Grenzen: Abkommen werden unter Dach und Fach gebracht, doch keines wird unterzeichnet, bevor die Schweiz eine “akzeptable Lösung” zum Problem des freien Personenverkehrs gefunden hat.

In diesem Kontext ist der abschlägige Bescheid zu verstehen, den der Europäische Auswärtige Dienst vorbereitet, als Replik auf die von Bern am 7. Juli unterbreitete Anfrage über die Neuverhandlung des Personenfreizügigkeitsabkommens.

Es sind nicht so sehr die Neuverhandlungen, die Brüssel nicht akzeptiert, sondern das Rütteln an den Grundprinzipien. “Wir sind nicht bereit, über Kontingente zu diskutieren oder über ein System einer Inländerbevorzugung,” wiederholt man immer wieder auf Seiten der EU.

Die Einsetzung der neuen EU-Kommission im November wird daran nichts ändern.

Deren neugewählter Präsident Jean-Claude Juncker, der ehemalige Premierminister von Luxemburg, hat sich bereits vor seiner Wahl am 15. Juli in Strassburg sehr klar geäussert. So geschehen anlässlich der Anhörungen von verschiedenen politischen Gruppierungen, die im Europa-Parlament vertreten sind.

Auch wenn die Debatte über die Zuwanderung in mehreren EU-Mitgliedstaaten – besonders in Grossbritannien – heftig geführt wird, bekräftigt Junker, dass der freie Personenverkehr für die arbeitende Bevölkerung in Europa “ein nicht verhandelbares Grundrecht ist”.

(Übertragen aus dem Französischen von Christine Fuhrer)

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