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Die Ukraine auf der Suche nach ihrer Identität

Dem Westen ein Dorn im Auge: Prozess gegen Julia Timoschenko. Reuters

Genau 20 Jahre nach Erreichen der Unabhängigkeit und sieben Jahre nach der "Orangen Revolution" befindet sich die Ukraine weiterhin im Spannungsfeld zwischen Europa und Russland. Dies spiegelt sich in der anhaltenden Identitätssuche des Landes.

Weit entfernt scheint die Aufbruchsstimmung der Orangen Revolution von 2004. Die Ukraine scheint immer tiefer in eine politische und wirtschaftliche Krise abzugleiten, insbesondere seit der Verurteilung von Ex-Premierministerin Julia Timoschenko, dem Aushängeschild der Opposition, und der umstrittenen Politik des nach Russland orientierten Präsidenten Viktor Janukowitsch.

Die Ukraine befindet sich in einem geopolitischen Konfliktfeld zwischen Ost und West, zwischen Russland und Europa. «Es ist ein durch interne Fehden zerrissener Staat, der seine Identität sucht», sagt Andre Liebich, Professor am Institut für Internationale Studien in Genf und Experte für die Länder des ehemaligen kommunistischen Ostblocks.

«Auf der einen Seite gibt es viele Leute, die sich mit Russland identifizieren, dem wirtschaftlich wichtigsten Partner der Ukraine. Sie sprechen ungern Ukrainisch und halten nichts von einer Annäherung des Landes an die EU, geschweige denn an die Nato. Auf der anderen Seite stehen die pro-westlichen Kräfte, die während der Orangen Revolution viele Leute haben träumen lassen.»

Wie andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion – mit Ausnahme von Litauen, Estland und Lettland als neue EU-Länder – hat die Ukraine ihren Veränderungsprozess, der nach dem Fall der Sowjetunion 1991 begonnen hat, noch längst nicht abgeschlossen. Dies gilt sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft.

«Für die ehemaligen Sowjetstaaten war es ausserordentlich schwierig, Reformen ausgerechnet in einem Moment einzuleiten, in dem sich die wirtschaftliche Situation verschlechterte und die sozialen Unterschiede zunahmen», meint Jochen Janssen, zuständig für Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen Europa/Zentralasien im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), dem Schweizer Wirtschaftsministerium.

«Als Folge kam es in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken zu politischen Wirren, die den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft erschwert haben», so Janssen.

Landwirtschaft und Schwerindustrie

Für die Schweizer Politik der Entwicklung und Zusammenarbeit bleibt die Ukraine 20 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit ein Schwerpunktland. Rund 10 Millionen Franken fliessen jährlich in Massnahmen, um die Stabilität dieses Landes zu stärken. Allein das Seco hat insgesamt 142 Millionen Franken in Projekte investiert, die zur nachhaltigen Entwicklung der Ukraine beitragen.

«Die mangelnde Diversifizierung und Modernisierung der Wirtschaft sowie ihre starke Abhängigkeit vom Energiesektor machen die ukrainische Ökonomie besonders verwundbar», sagt Miroslav Veprek, Ukraine-Spezialist im Seco.

In der Tat: Die Finanzkrise von 2008 hat die Ukraine in die Knie gezwungen. Über 25 Prozent der Bevölkerung leben in Armut unter dem Existenzminimum. Die 100 Reichsten des Landes verfügen über ein Vermögen, das die Hälfte des Bruttoinlandprodukts erreicht.

Wie zu Sowjetzeiten sind Schwerindustrie und Landwirtschaft bis heute die Pfeiler der Wirtschaft. Die enorme Bürokratie und Korruption ist ein gewaltiges Hindernis für Direktinvestitionen aus dem Ausland.

«Die Korruption ist allgegenwärtig und scheint gegen jede Art von Regimewechsel immun zu sein», hält Andre Liebich fest. Die Wirtschaft befände sich in den Händen einer russischen Oligarchie. «Keine Regierung vermag dieses Problem anzugehen», so der Professor.

Korruption als Krebsgeschwür

Der Kampf gegen Korruption ist einer der Schwerpunkte in der Arbeit des Seco vor Ort. «In diesen Jahren haben wir versucht, bei der Gesetzgebung und in den Institutionen Reformen zu fördern, um den Kampf gegen die Korruption zu intensivieren», erklärt Seco-Experte Miroslav Veprek.

«Wir arbeiten zudem daran, ab 2012 ein Projekt in der Landwirtschaft umzusetzen, das helfen sollte, Korruption zumindest indirekt zu einzudämmen, indem mehr Transparenz hergestellt wird.»

Trotz des grossen Engagements der Schweiz in der Ukraine bleiben die wirtschaftlichen Handelsbeziehungen äusserst bescheiden. Im Jahr 2009 beliefen sich die Exporte in die Ukraine auf 364 Millionen Franken, während die Importe mit 61 Millionen Franken stabil blieben. Das Potential der Handelsbeziehungen ist laut Seco-Experten aber noch lange nicht ausgeschöpft.

In jedem Fall ist die Ukraine nach der Russischen Föderation (Exporte in Höhe von 3,18 Milliarden Franken) der zweitwichtigste Handelspartner unter den einstigen Sowjetrepubliken. Mit 46 Millionen Einwohnern und einer wichtigen geostrategischen Position spielt Kiew eine fundamentale Rolle für die politische und wirtschaftliche Stabilität in Europa.

Ein Stachel im EU-Fleisch

Die Ukraine ist Mitglied der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und gehört seit 2008 zur Welthandelsorganisation. Bis Ende Jahr hätte ein Vertrag für ein Freihandelsabkommen mit der EU unterzeichnet werden sollen. «Doch angesichts der siebenjährigen Freiheitsstrafe für Julia Timoschenko wird es wohl zu keiner Einigung kommen», hält Liebich fest.

Die ehemalige Premierministerin wurde wegen Machtmissbrauchs verurteilt. Man warf ihr vor, bei der Lösung der Gaskrise von 2009 persönlich profitiert zu haben – zum Nachteil der wirtschaftlichen Interessen des Landes.

Viele Staaten betrachten die Verurteilung aber als politisches Urteil. Die EU sieht darin sogar einen «Angriff auf die Demokratie» und droht damit, die Verhandlungen für ein Assoziations-Abkommen abzubrechen, falls die Oppositionsführerin keinen fairen Prozess vor dem Appellationsgericht erhält.

«Bei der EU steht die Ukraine nicht an erster Stelle – dort sind Länder wie Kroatien und die Türkei wesentlich wichtiger. Doch Brüssel hat ein grosses Interesse, gute Beziehungen mit Kiew zu unterhalten», hält Andre Liebich fest.

Dafür nennt er zwei Hauptgründe: «Einerseits stellt die Ukraine einen strategisch wichtigen Korridor dar, andererseits könnte eine weitere Annäherung an Russland gefährlich werden, und von dieser Wahl könnte auch die Zukunft anderer Kleinstaaten der ehemaligen Sowjetunion abhängen.»

Die Ukraine zählt 46 Millionen Einwohner und ist mit einer Fläche von 600‘000 km2 das zweitgrösste Land Europas. Seit August 1991 ist das Land unabhängig.

Seit dem Fall der Sowjetunion steht die Ukraine im Zentrum geopolitischer Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Westen. Einerseits teilen Kiew und Moskau Geschichte und historische Wurzeln, andererseits fühlt sich ein Teil des Landes zu den westlichen Nachbarländern hingezogen.

Im Dezember 2004 kam es zur so genannten Orangen Revolution. Der ehemalige russlandtreue Präsident Leonid Kuchma musste dem Reformer Viktor Juschtschenko Platz machen.

Trotz Unterstützung von Seiten der EU und den USA kam es zu einer Regierungskrise.

Die wichtigsten Protagonisten des orangen Lagers –Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko – konnten sich aber in den folgenden Jahren nicht auf einen gemeinsamen Weg einigen, und die Hoffnungen vieler Ukrainer blieben unerfüllt.

Der politischen Stagnation überdrüssig, wählten die Ukrainer Anfang 2010 Viktor Janukowitsch ins Präsidentenamt. Dieser orientiert sich stark an Russland.

Die Kontakte zwischen der Schweiz und der Ukraine reichen bis in die Zarenzeit zurück. Damals war das Gebiet der heutigen Ukraine ein Auswanderungsziel für Schweizer. So entstand die Kolonie «Zürichtal» auf der Halbinsel Krim vor rund 200 Jahren.

Wenig später gründeten Weinbauern aus der Romandie in der Gegend von Odessa eine Kolonie, die bis heute existiert.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion anerkannte die Schweiz die Ukraine 1991 und eröffnete umgehend eine Botschaft in Kiew.

Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit der beiden Länder ist sowohl auf bilateraler als auch multilateraler Ebene ausgezeichnet.

Zwischen 1992 und 2009 unterzeichneten die Schweiz und die Ukraine 18 Abkommen.

Die Ukraine ist Mitglied der Schweizer Stimmrechtsgruppe in der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.

Die Schweiz unterstützt die Reformbestrebungen der ukrainischen Regierung. Mit jährlich 10 Mio. Franken engagiert sie sich in einer Reihe von Projekten (gute Regierungsführung, Gesundheit, nachhaltige Bewirtschaftung der Ressourcen u.a.).

Der wirtschaftliche Austausch ist trotz steigender Tendenz bescheiden. So betrugen die Exporte 2009 364 Mio. Franken, die Importe 61 Mio. Franken.

(Quelle: EDA)

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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