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Iraker der Schweiz treten für Versöhnung ein

Irak wird von einer Welle der Gewalt erschüttert, schlimmer denn je. Reuters

Die Zunahme der Gewalt in Irak lässt auch die Diaspora in der Schweiz verzweifeln. Verschiedene Vertreter weisen auf die Einflussnahme der Nachbarländer, aber auch auf die interne Spaltung ihres Herkunftslands hin.

Seit Anfang 2013 sind in Irak 6000 Personen getötet worden, davon allein im November 950. Diese Zahlen zeugen von einer noch nie dagewesenen Welle der Gewalt, die das Land seit den religiös bedingten Zusammenstössen in den mehrheitlich von Sunniten bewohnten Städten heimsucht.

“Wir müssen zusehen, wie unsere Familien sterben und unser Land zerstört wird. Die Situation beunruhigt mich, aber man muss sagen, dass wir Iraker alle mitverantwortlich sind”, sagt der irakische Kunstmaler Faik Al-Aboudi, der seit 10 Jahren in Lausanne lebt.

Sein Landsmann Khalil Al-Bayati, wohnhaft im Kanton Solothurn, sagt, dass bei der Krise auch ausländische Hände im Spiel seien. “Es sind Apparatschiks der ehemaligen Baath-Partei, die nach ihrem Machtverlust mit Nachbarstaaten kollaboriert haben, um Stabilität in Irak zu verhindern.”

Mangel an nationaler Solidarität

Besorgt zeigt sich auch Rachid Abbas, der in Vevey von bildender Kunst lebt: “Der Irak wird von Mafia-Organisationen regiert. Jede von ihnen kontrolliert eine Region im Land. Der Staat existiert nicht mehr, denn er ist nicht in der Lage, seine Bürger zu schützen.”

Diese Einschätzung teilt Khalil Al-Bayati: “Die verschiedenen Parteien und Gruppen im Irak verfolgen ihre eigenen Interessen, anstatt jene des Landes.” Das widerspiegle sich in “einem Mangel an nationaler Solidarität”, meint Faik Al-Aboudi, der bedauert, dass es überhaupt keinen Patriotismus gebe. “Viele von denen, die heute Irak regieren, sind daran, das Land zu verkaufen. Sie finanzieren und schützen den Terrorismus”, sagt er.

Was sich heute in Irak abspiele, sei auf die Einmischung der Nachbarländer zurückzuführen. “Aber diese hätten sich niemals in die inneren irakischen Angelegenheiten mischen können, wenn sie dafür keine Unterstützung aus dem Inland hätten”, bedauert er.

“Das Opfer ist das iranische Volk”, sagt Salah Al-Bayati, Gründer des Sozialen Irakischen Zentrums in der Schweiz und Präsident der Organisation Ischtar, die im Bildungsbereich aktiv ist und juristische Beratung anbietet.

Trotz all der widrigen Umstände brauche es eine starke Persönlichkeit an der Spitze des Staats, welche in der Lage sei, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, ist sich die irakische Diaspora in der Schweiz – laut den jüngsten offiziellen Zahlen sind es rund 5100 Personen mit festem Wohnsitz sowie 2100 Flüchtlinge – einig. “Die Religionszugehörigkeit oder die regionale Herkunft darf keine Rolle spielen. Wichtig ist einzig, dass sie im Interesse von Irak handelt”, sagt Khalil Al-Bayati.

Keine Einheit ohne Autorität

Diese Idee erscheint einigen Expats als unrealistisch, zum Beispiel Faik Al-Aboudi: “Die Iraker haben in diesem Geist schon nach Lösungen gesucht, die gescheitert sind. Der politische Apparat, der nach dem Sturz von Saddam Hussein errichtet wurde, hat sich als schlecht herausgestellt. Die einzige Antwort ist deshalb weiterhin der Aufstand des Volks, welches das Land aus der Krise befreien würde. Die Macht würde an eine Autorität delegiert, welche die Rückkehr zur Normalität sicherstellen würde.”

Wenn also der Staat seine Macht wieder erlangt, wird das Land seine Einheit wieder finden. Die Spaltung und die religiösen Konflikte liessen sich damit eindämmen, meint Rachid Abbas. “Diese Konflikte sind dem Volk nicht eigen. Sie werden von Politikern geschürt.”

Salah Al-Bayati ist pessimistisch. Seiner Meinung nach gibt es nur eine Möglichkeit, das Land zu retten, nämlich durch die Entwicklung der Bildung. Heute sind zwischen 50 und 60 Prozent der Bevölkerung Analphabeten.”

Die Emigranten Iraks hätten bei der Wahl einer Lösung eine Rolle spielen können. Das Problem besteht darin, dass im Ausland kein geeigneter Führungskreis existiert, der die Zusammenarbeit koordiniert. “Wenn Sie einen Lösungsvorschlag unterbreiten, werden Sie verdächtigt, entweder dem irakischen Regime anzugehören, oder der Opposition.”

Dieser Rückzug zum Fanatismus wurde in der Schweiz seit dem Beginn der amerikanischen Besetzung des Iraks im März 2003 wahrgenommen. Salah Al-Bayati will aber festgestellt haben, dass “sich der Fanatismus mit der Zeit abgeschwächt hat. Umgekehrt haben sich Organisationen, die ihn schürten, zu Repräsentanten von Parteien an der Macht gewandelt.”

Das Zentrum, das 2004 gegründet wurde, ist eine gemeinnützige Institution, politisch neutral und konfessionslos.

Es fördert den Dialog und Erfahrungsaustausch zwischen Irakern und Schweizern.

Zu den Zielen der Institution gehören u.a.: Die Freundschaft zwischen den Mitgliedern des Zentrums und der schweizerischen Gesellschaft zu stärken; die Beziehungen zwischen Irakern und den öffentlichen Integrationsinstitutionen zu fördern, Solidarität zwischen irakischen Frauen und Schweizer Frauen, die mit Irakern verheiratet sind, zu unterstützen.

Eine Frauengruppe des Zentrums ist damit beauftragt, Irakerinnen, die in die Schweiz kommen, in ihren Beziehungen zu den Immigrationsdiensten des Aufnahmelandes zu unterstützen.

Das Zentrum organisiert Seminare und Konferenzen, Sprachkurse, kulturelle und soziale Aktivitäten.

Für eine Partnerschaft mit Nassiriya

Trotz all der Schwierigkeiten ist es gewissen Organisationen, die in der Schweiz gegründet wurden, gelungen, nützliche Aktivitäten zu entfalten. Zum Beispiel die weiter oben genannte Ischtar-Organisation, die seit 2007 in Baden (Kanton Aargau) aktiv ist. Sie bietet juristische Beratung für Iraker in arabischer und kurdischer Sprache an. Sie unterstützt die Integration der Immigranten, organisiert für sie Deutschkurse und baut Brücken zwischen der Schweiz und arabischen Ländern. Die Organisation wird finanziell und kulturell von Schweizer Vereinen, vom Kanton Aargau, von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von Integrationsförderung der Stadt Zürich unterstützt.

Ischtar arbeitet mit dem National Coalition Building Institute (NCBI) im Kanton Aargau zusammen, sowie mit der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Ausserdem beteiligt sie sich an der Partnerschaft zwischen den Städten Baden und Nassiriya, an der Entwicklung des Bildungssystems in Irak und der Beherbergung von Waisenkindern.

(Übertragung: Peter Siegenthaler)

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