Schweizer Souveränität im EU-Härtetest

Die Europa-Debatte hat sich seit der Finanzkrise wieder intensiviert. Avenir Suisse, die Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft, hat die öffentliche Diskussion im Sommer mit einer Publikation über die Schweizer Souveränität belebt und organisiert nun in verschiedenen Städten Streitgespräche.
Das Interesse für das Streitgespräch über «Souveränität im Härtetest» übertrifft letzten Donnerstag die Erwartung des Gastgebers. Avenir Suisse muss mit seiner Besucherschar an der Uni Bern ins grosse Auditorium ausweichen.
Auf dem Podium sollen Walter Stoffel und Jan Atteslander die Klingen kreuzen. Der Professor für Wirtschaftsrecht, und bis Mitte Jahr Präsident der Wettbewerbskommission, gegen den Aussenwirtschafts-Spezialisten von economiesuisse, dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft.
Beim Streitgesprächsoll es aber nicht um die Frage «EU-Beitritt ja oder nein» gehen, sondern um neue europapolitische Optionen für die Schweiz. Spätestens seit der Finanzkrise ist die Europa-Debatte neu lanciert.
Und zusätzlichen Auftrieb hat sie, von der schwarzen OECD-Liste, dem Streit ums Bankgeheimnis, der Polemik ausländischer Finanzminister und vor allem von der Libyenkrise erhalten, in der sich die Schweiz ziemlich allein gelassen fühlte.
Avenir Suisse empfehle zwar den Beitritt nicht, sagte einleitend Direktor Thomas Held. Andererseits werde der bisherige bilaterale Weg, den die Schweiz seit Jahren mit Brüssel beschreitet, immer steiniger.
Ewig lasse sich der so genannte Nachvollzug nicht weiterpraktizieren, so Held und verwies auf den bundesrätlichen Bericht, der eine «klare Tendenz in Richtung Erosion» der Souveränität aufzeige.
Etwas differenzierter, bitte
Die EU-Diskussion läuft in der Schweiz seit Jahrzehnten. «Nur sollte sie etwas differenzierter geführt werden», wünschte sich Held. Deshalb habe Avenir Suisse in Bern den «differenziert für eine EU-Annäherung» eintretenden Wirtschaftsrechts-Professor Stoffel und als Kontrahenten den «differenziert argumentierenden» Bilateralisten Jan Atteslander eingeladen.
Für eine breitere, über bilaterale Verträge hinausgehende Form der Annäherung an die EU spricht laut Stoffel der Umstand, dass auch der bisher bilaterale Weg die Schweizer Souveränität nicht verschont habe. Die EU-Gesetze seien oft einfach übernommen worden.
Jan Atteslander ist entschieden gegen eine Annäherung. Er hält gegenwärtig im EU-Raum eine «apokalyptische makroökonomische Katastrophe» für möglich, aus der sich die Schweiz besser heraushalte. «Es wird einen heroischen Kraftakt brauchen, um die EU-Länder finanzpolitisch wieder dorthin zu bringen, wo sie 2007, vor dem Ausbruch der Krise, standen.»
Stoffel stimmt dem zwar zu, meint aber, dass «immerhin ein Kollaps verhindert wurde», und dass im Fall einer Katastrophe die Schweiz ohnehin mitbezahlen müsse.
EWR oder Beitritt à l’anglaise
Als Alternative zum bilateralen Weg wird auch die Neuauflage eines Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR ins Spiel gebracht, den das Schweizer Stimmvolk 1992 knapp verworfen hatte.
1992 wäre er noch für den EWR gewesen, sagt Atteslander – heute nicht mehr. Inzwischen habe die politische gegenüber der wirtschaftlichen Integration an Gewicht gewonnen. Und, wie das Beispiel Norwegen zeige, bedeute EWR heute Mitübernahme sämtlicher EU-Gesetze, ohne etwas dazu sagen zu können – also ohne Spielraum für nationale Souveränität.
Der Weg, den England gewählt hat, wird auch in der Schweiz diskutiert: Beitritt ohne Währungsunion, sprich ohne Euro-Raum. Damit wäre nicht nur der Schweizer Franken gerettet, sondern auch der Zinsbonus (strukturell niedrigeres Zinsniveau), den die Schweiz gegenüber der EU wegen der eigenen Währung zur Zeit noch geniesst.
Laut Stoffel wäre es demgegenüber eine Illusion zu glauben, dass die Schweiz künftig der EU näher kommen könnte, ohne den Euro übernehmen zu müssen – denn die Schweiz erfülle ja alle wirtschaftlichen Beitrittskriterien, könne also nicht wie ein armes Land auf erleichterte Umstände hoffen.
Heikle Steuerpolitik
Laut Stoffel gehört es zu den gut gehüteten Geheimnissen des Landes, wie viel die Schweiz seit Beginn der Bilateralen Verhandlungen für den Zugang zur EU insgesamt bezahlen musste. Er schätzt, die Summe entspreche ungefähr dem, «was wir nach einem offiziellen Beitritt ebenfalls zahlen müssten, aber offengelegt».
Verschiedener Meinung sind die Kontrahenten auch in der Steuerpolitik, die die Schweiz im Fall eines EU-Beitritts anpassen müsste: «Die Mehrwertsteuer würde man wohl hochfahren müssen», schätzt Atteslander, «und dafür ginge der Anteil der Einkommenssteuern runter. Mit anderen Worten, die Kantone hätten dann weniger zu sagen als heute.»
Dem stellt Stoffel den Sachzwang gegenüber, dass die Kantone ohnehin ihr «Geschäftsmodell mit reichen Ausländern und tiefer Steuerbelastung» künftig anpassen müssen.
Falls die EU auseinanderbricht
Finanziell würde es die Schweiz ungefähr gleichviel kosten, aus einer auseinanderbrechenden EU auszusteigen, ob sie nun Vollmitglied, bilateral oder im Rahmen des EWR mit der EU verbunden wäre, vermuten beide Fachleute. Denn die real existierende Abhängigkeit von der EU und ihren Märkten ist in allen Fällen etwa gleich gross.
Zusammenfassend sagt Stoffel, dass der bilaterale Weg eine zu wenig breite Perspektive für die Beziehungen der Schweiz zur EU aufzeige. Die Wirtschaft brauche jetzt eine vorausschauende, globale Lösung.
Atteslander findet genau das Gegenteil: «Über 30’000 der economiesuisse angeschlossene Unternehmen sagen unisono, die Rechtssicherheit beim Bilateralismus sei eher bewahrt.» Nur, fügt er relativierend hinzu, sei es möglich, dass economiesuisse die Situation in drei oder vier Jahren wieder neu analysiere müsse.
Walter Stoffel ist Professor für Wirtschaftsrecht an der Uni Freiburg. Der Anwalt habilitierte 1986, und lehrte auch an französischen, US- und italienischen Universitäten. Stoffel präsidierte bis Mitte 2010 die Wettbewerbs-Kommission.
Jan Atteslander studierte in Bern und arbeitete zuerst bei der Eidg. Finanzverwaltung. 2008 wurde er Verantwortlicher für Fragen der Aussenwirtschaft beim Dachverband der Schweizer Wirtschaft (economiesuisse). Vorher war er Mitglied der Geschäftsleitung von SwissHoldings.
Avenir Suisse gab diesen Sommer ein Buch zur Souveränitäts-Strategie der Schweiz heraus.
Die beiden Herausgeber Katja Gentinetta und Georg Kohler lassen dabei verschiedene Autoren zum Problem der Souveränität, besonders im Verhältnis zur EU, Stellung nehmen.
Die Schweiz unterhält zur Europäischen Union bilaterale Beziehungen.
Bilaterale I (1999) konzentrieren sich auf die gegenseitige Marktöffnung.
Sie umfassen sieben Bereiche: Freizügigkeit, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Luftverkehr, Schweizer Beteiligung an EU-Forschungsprogrammen.
Bilaterale II: (2004) beziehen sich auf neue wirtschaftliche Interessen und dehnen die Zusammenarbeit in anderen Politikbereichen (innere Sicherheit, Asyl, Umwelt oder Kultur) aus.
Enthalten sind die folgenden Dossiers: Schengen/Dublin, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung, verarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse, das MEDIA-Abkommen, Umwelt, Statistik, Renten, Bildung, Berufsausbildung
Verhandlungen zur Änderung einiger bestehender Abkommen (verarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse, Freizügigkeit, Luftverkehr, techn. Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen) sind im Gange. Anpassungen der Vereinbarungen über die Besteuerung von Zinserträgen und Betrugsbekämpfung sind angekündigt.
Weiter sind seit 2007 Gespräche oder Verhandlungen eingeleitet worden zu: weitere Unternehmensbesteuerung, Elektrizität, Landwirtschaft, Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit und Security-Produkte, Sicherheits-Materialien für Chemikalien, usw.
Auch noch nicht besprochen wurden Themen wie Satelliten-Navigation, Zusammenarbeit bei der Umsetzung des Wettbewerbsrechts, Finanzmarktaufsicht, Marktzugang von Finanzintermediären, ein Rahmenvertrag.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch