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Satire-Symbol sucht nach neuen Formen

Die Qual der Wahl: Nebi-Chef Marco Ratschiller sortiert Zeichnungen und Grafiken für das nächste Heft. swissinfo.ch

Seit 130 Jahren belebt der "Nebelspalter" die schweizerische Presse und vor allem die Ärztewartezimmer - mit wechselndem Erfolg.

Mit neuen Satire- und Humorformen, ohne das Bewährte wegzulassen, will der neue Chefredaktor das schlingernde Satire- und Humormagazin auf Vordermann bringen.

Gut 100 Tage ist er im Amt: Marco Ratschiller, 30 Jahre alt, der neue Chefredaktor des “Nebelspalters”. “Es ist schwierig, jetzt schon auf Kurs zu sein”, meint der Historiker im Gespräch mit swissinfo. Seine Lizenziats-Arbeit handelt von nationalen Selbst- und Feindbildern des 20. Jahrhunderts in der Karikatur des “Nebelspalters”.

Von seinem Höhepunkt, einer Auflage von rund 70’000 Exemplaren in den 70er-Jahren, ist das Schweizer Satire-Symbol auf bedrohliche 13’500 abgerutscht. Eine Ausgabe erreicht aber mehr als 279’000 Leserinnen und Leser. Dies ist Schweizer Rekord! Zum Überleben braucht es aber mehr.

swissinfo: Der “Nebelspalter” muss sich unter Ihrer Ägide verändern. Wie packen Sie das an?

Marco Ratschiller: Ich trat mit der Bedingung an, nicht schon in vierteljährlichen Abschlüssen alles verändern zu müssen. Denn radikale Änderungen verdaut die “Nebelspalter”-Leserschaft nicht. Wir müssen einen überlegten Wechsel vornehmen, um nicht das Stammpublikum in die Flucht zu treiben.

swissinfo: Was ist neu unter Ihrer Führung?

M.R.: Das Neue ist noch nicht sichtbar. Ich wollte erst mal das Team kennen lernen. Es geht nicht an, dass einer in meinem Alter in die Redaktion spaziert und sagt: Ich mache alles besser. Ich wollte die Stärke dieser Menschen kennen lernen und herausfinden, wo das Entwicklungspotenzial liegt.

Das Layout muss erneuert werden, es wurde immer wieder kritisiert. Und das ist auch das Erste, was wir wirklich sichtbar erneuern ab der 4. Ausgabe.

swissinfo: Seit wann kennen Sie den “Nebelspalter”?

M.R.: Seit meiner Kindheit. Ich entstamme einer Mittelstandsfamilie, meine Eltern hatten ihn abonniert. Als Kind habe ich den “Nebelspalter” geliebt, weil er Zeichnungen und Cartoons bot. So was verstand ich. Gelesen hatte ich damals noch nicht so gerne. Ich glaube, dass sich daraus mein Humorverständnis entwickelte.

Die zweite Phase hat mit meinem Geschichtsstudium zu tun. Ich nutzte ihn in meiner Lizenziatsarbeit als primäre Quelle lernte und so den “Nebelspalter” des 20. Jahrhunderts ziemlich profund kennen.

swissinfo: Sie sind also ein echter Insider! Wie erklären Sie sich den Niedergang des “Nebelspalters”?

M.R.: Er war im Zweiten Weltkrieg eine offene Stimme gegen die Nationalsozialisten. Das Konzept hat länger funktioniert, als die Schweizer dafür reif gewesen wären. Er war Teil der geistigen Landesverteidigung. In der historischen Forschung dehnt man diesen Begriff auch auf die antikommunistische Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus.

Bis in die siebziger Jahre hatte das Heft eine sehr hohe Auflage (bis 75’000). Danach galt der Nebelspalter immer mehr als altbacken, konservativ und verstaubt.

Weiter Schuld am Niedergang der Abonnentenzahlen waren die Zeitungen und Zeitschriften, die satirische Elemente und Cartoonisten aufnahmen. Auch bei Radio und Fernsehen gibt es viel mehr Satire. Damit macht man einer klassischen Satirezeitschrift, übrigens eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, stark Konkurrenz.

swissinfo: Die Satire-Angebote im Fernsehen unterscheiden sich fundamental von jenem des “Nebelspalters”. Möchten die Leute lieber oberflächliche Effekthascherei?

M.R.: Ein guter Teil des Fernsehpublikums will das tatsächlich. Das zeigen gerade die privaten Fernsehsender in Deutschland. Wir können nicht diese Art von Comedy liefern. Das kann man nicht “verschriftlichen”.

swissinfo: Sie machen selbst Karikaturen und schreiben Satire. Ist da der “Nebelspalter” auch Pate gestanden? Hätten sie diesen Weg auch ohne Nebi eingeschlagen?

M.R.: Animiert dazu wurde ich nicht nur durch den “Nebelspalter”. Da gab es auch andere Faktoren: Langweilige Schulstunden zum Beispiel animieren noch weit mehr…

swissinfo: Und jetzt finden sich Ihre Karikaturen bereits im Heft?

M.R.: Ja, ich habe im Eröffnungsheft gleich das Titelbild gemacht, auch aus der Überlegung, hier Signal zu setzen: Hier ist ein Neuer an Bord, der auch zeichnen kann. Die Chefreaktoren der letzten Jahre kamen alle vom Journalismus her und konnten die gestalterische Seite nicht selbst bedienen.

Hauptsächlich bin ich aber für anderes zuständig, für Koordination und Weiterentwicklung des Produktes.

swissinfo: In welche Richtung wird sich der “Nebelspalter” bewegen?

Ich bin nicht nur auf Provokation aus. Ich denke, damit hat man keinen dauerhaften Erfolg. Wir müssen im “Nebelspalter” auch nach neuen Satireformen suchen. Man hat mit SMS und E-Mail auch neue Textsorten, die man satirisch umsetzen könnte.

Mir hat im “Nebelspalter” diese Art der Parodie gefehlt, die auch unsere Kommunikationsformen reflektieren. Sie sollen nicht nur den politischen Inhalt, sondern die Form an sich persiflieren.

Von welchem typischen Schweizbild, von welcher Kritik der Schweiz möchten Sie Abstand gewinnen?

M.R.: Ich war enttäuscht, wie statisch auch das kritische Selbstbild der Schweiz war. Und so wird man bald müde, dass der Karikaturist immer die idyllische Schweiz, die Heidi-Schweiz als Bild braucht. Als Karikaturist ist mir an einer neuen Bildsprache gelegen.

swissinfo: Sie wollen also nach allen politischen Seiten austeilen?

M.R.: Ja, auch wenn man dann zum Schluss mit dem Rücken zur Wand steht (lacht).

swissinfo: Was für heikle Themen hat denn der “Nebelspalter” seit Beginn des Jahres angepackt?

M. R.: Ich glaube, der Entscheid, gleich in der ersten Nummer das Tsunami- Ereignis zu behandeln, wäre wahrscheinlich vor mir nicht gefällt worden. Es lag mir aber auch daran, das nicht in einer Art und Weise zu machen, dass es verletzen könnte.

swissinfo: Darf Satire über dieses Ereignis überhaupt berichten, sich lustig machen?

M.R.: Zum Elend und den Toten selbst haben wir uns nicht geäussert. Aber über den medialen Umgang mit diesem Ereignis und mit der Spendenflut, also der zweiten Flut, die da gekommen ist, das hat sich durchaus angeboten.

swissinfo: Wer ausser Ärzten abonniert denn heute noch den “Nebelspalter”?

M.R.: Wie bei Zeitschriften allgemein ist es ein älteres Publikum, mit einem Durchschnittsalter von 50 und darüber.

Ich glaube nicht an die Rezepte, eine junge, freakige Kultzeitschrift zu machen. Ein neues Publikum wären die über 30-Jährigen. Ein Satirekonsument ist einer, der sonst schon Medien konsumiert, sonst wird er die Satire nicht verstehen und auch nicht lustig finden.

swissinfo-Interview: Etienne Strebel

Die Geschichte des “Nebelspalters”:

1875 wurde der “Nebelspalter” gegründet.
Im 19. Jahrhundert war das Magazin, welches nur aus Satire-Beiträgen bestand, äusserst beliebt.
Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ging es dem “Nebelspalter” mehr schlecht als recht.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er dann vom Loepfe Benz Verlag übernommen, damit begann die Ära Bö.
Karl Böckli wurde durch einen freien Mitarbeiter entdeckt. Jahre später war er dann Chefredaktor. Er war ein talentierter Zeichner und Texter.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde er Chefredaktor, in einer Zeit, in der Satire wirklich gefragt war.
Trotzdem war der “Nebelspalter” auch eine Stütze des Schweizer Staates, eines konservativen und gleichzeitig liberalen Staates.

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