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Schweiz verpasst ehrgeiziges Biodiversitäts-Ziel

Zersiedelung der Landschaft und touristische Aktivitäten setzen der Biodiversität auch in bisherigen Nischen zu. scnat.ch

Die Schweiz hat ihr 2003 gestecktes Ziel, bis ins Jahr 2010 den weiteren Verlust an biologischer Vielfalt im eigenen Land zu stoppen, nicht erreicht.

Die Schweiz gehört zu jenen europäischen Staaten, die sich an der Konferenz “Umwelt für Europa” 2003 in Kiew einem ehrgeizigen Ziel verpflichteten.

Diese Zielsetzung ging über die Beschlüsse des UNO-Erdgipfels von Johannesburg hinaus, den Verlust von Arten und Lebensräumen (Biodiversität) bis 2010 bedeutend zu verlangsamen.

Ein Projekt unter der Leitung des Forums Biodiversität Schweiz, an dem sich mehr als 80 Forscherinnen und Experten beteiligt hatten, machte Hoffnungen zunichte, dass die Schweiz bis in diesem Jahr die Wende schaffen könnte.

Die Biodiversität in der Schweiz ist nach wie vor bedroht und nimmt weiter ab, das Ziel, den Verlust bis 2010 zu stoppen, wurde nicht erreicht: Dies ist die Schlussfolgerung des Projekts, dessen Resultate letzte Woche an einer Tagung in Zürich präsentiert wurden.

Die Ergebnisse der Studie sind in Buchform unter dem Titel “Wandel der Biodiversität in der Schweiz seit 1900” veröffentlicht worden.

Hoch gestecktes Ziel

“Es ist zu befürchten, dass die Leistungen der Ökosysteme wie die Abfederung von Klimaänderungen, ihre Funktion als Kohlenstoff-Speicher, die Reinigung des Wassers und die Erholungsfunktion mit einer Biodiversität auf solch tiefem Niveau langfristig nicht mehr garantiert sind”, warnte Daniela Pauli vom Forum Biodiversität Schweiz.

Doch gebe es auch Lichtblicke, erklärte die Naturschutzorganisation Pro Natura. Es sei richtig gewesen, dass sich die Schweiz für 2010 ein hohes Ziel gesteckt habe. Dies habe das Land dazu gezwungen, ehrgeizig zu handeln und habe mitgeholfen, die Wahrnehmung in der Bevölkerung für das Thema zu steigern.

“Wir wussten, dass es sehr schwierig sein würde, diese Zielvorgabe zu erreichen. Man kann denn auch nicht wirklich von Misserfolg sprechen”, erklärte Pro-Natura-Sprecher Nicolas Wüthrich gegenüber swissinfo.ch.

“Eher überraschend war aber, dass die Regierung noch im vergangenen Jahr erklärt hatte, die gesteckten Ziele könnten wahrscheinlich erreicht werden. Fachleuten war es klar, dass dem nicht so sein würde.”

“Jetzt ist die Sachlage klar. Dies sollte in der Bevölkerung sowie bei Behörden und Politikern das Bewusstsein steigern, dass es sich um ein ernsthaftes Problem handelt”, sagte Wüthrich weiter.

Verluste im Mittelland grösser

Insgesamt hat die Biodiversität in der Schweiz zwischen 1900 und 1990 abgenommen. Einige Regionen sind mehr, andere weniger betroffen. Den grössten Verlust erlitten hat die Vielfalt im Mittelland, während seltene Arten und Lebensräume in den Berggebieten besser erhalten blieben.

Es ist auch nicht gelungen, den Rückgang an biologischer Vielfalt in den Wäldern – Lebensraum für artenreichste Gruppen wie Insekten, Pilze und Flechten – aufzuhalten.

Im Mittelland fragmentierten rund 100’000 “Hindernisse” den Lauf von Flüssen und Bächen, heisst es in der Studie. Auch die Fläche und Qualität der artenreichen Trockenwiesen und -weiden nimmt weiter ab, vor allem wegen der Ausdehnung der Siedlungsgebiete.

Von den 10’341 Arten auf der Roten Liste der bedrohten Arten waren bis 1990 in der Schweiz 236 verschwunden. In den vergangen 20 Jahren konnten zwar die Bestandesrückgänge vieler Arten und die Flächenverluste bei bestimmten Lebensräumen verlangsamt werden.

Die Talsohle ist aber nach Angabe der Experten noch nicht erreicht. Wegen der Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung, der Ausdehnung des Siedlungsraums und der Zunahme von Tourismus- und Freizeitaktivitäten könne man vor 2020 nicht mit einer positiven Trendwende rechnen.

Auch würden neue bedrohliche Faktoren wie invasive Arten sowie direkte und indirekte Auswirkungen des Klimawandels den Druck auf schon seltene Arten und Lebensräume weiter erhöhen.

Nationale Strategie

Wie andere Umweltorganisationen setzt auch Pro Natura ihre Hoffnungen auf die nationale Strategie zur Biodiversität, die zur Zeit entwickelt wird und dem Parlament 2011 vorgelegt werden soll.

“Sie wird ein besser koordiniertes und effizienteres Vorgehen ermöglichen”, zum Beispiel bei der Zielsetzung und dem Einsatz von Geldern, sagte Wüthrich.

Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) erklärte gegenüber swissinfo.ch, das Ziel für 2010 sei zwar verpasst worden. Die ehrgeizige Vorgabe habe aber eine Dynamik geschaffen und die verschiedenen Interessenvertreter ermutigt, vereint auf ein gemeinsames Ziel hin zu arbeiten.

Damit die neue Strategie erfolgreich umgesetzt werden könne, müssten alle betroffenen Sektoren aktiv einbezogen sein, erklärte die Bafu-Sprecherin.

“Es herrscht eine gewisse Enttäuschung, dass die Vorgaben nicht erreicht wurden. Es war ein sehr ehrgeiziges Ziel. Aber man sieht auch das Licht am Ende des Tunnels”, sagte Thomas Walter, einer der Autoren der Studie.

“Wir haben Fortschritte gemacht und wir können noch mehr Fortschritte machen, aber dazu müssen wir noch härter arbeiten.”

In der Studie heisst es auch, dass die Schweiz bereits über eine gute gesetzliche Grundlage zum Schutz und zur Förderung der Biodiversität verfüge und viele erfolgreiche Massnahmen eingeleitet habe. Ohne diese wäre die Situation noch schlimmer. Die Umsetzung der bestehenden Instrumente sei aber “oft mangelhaft”, schreiben die Autoren.

“Angesichts der enormen Verluste an biologischer Vielfalt in der Zeit vor 1990 und des andauernden Rückgangs an Populationen, Lebensräumen und deren Qualität ist der Handlungsbedarf jedoch gross”, heisst es in der Studie.

Daher sollte die Schweiz die “grossflächige Erhaltung, Aufwertung und Neuschaffung von wertvollen Lebensräumen” an die Hand nehmen. “Dies kann nur gelingen, wenn alle Gesellschafts- und Politikbereiche ihre Verantwortung für die Biodiversität wahrnehmen.”

Die nationale Strategie müsse helfen, diesen Aufbruch anzustossen, schliesst das Fazit der Studie.

Jessica Dacey, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

Das Bundesamt für Umwelt entwickelt in Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessensgruppen im Auftrag der Regierung eine nationale Strategie zum Schutz der Biodiversität.

Die Strategie sieht verbindliche Massnahmen vor und hat zwei Hauptziele im Visier: die dauerhafte Erhaltung einer reichhaltigen Biodiversität und deren Fähigkeit, sich Veränderungen anzupassen.

Um diese Ziele zu erreichen hat die Regierung vier Eckpfeiler gesetzt: Verbindlich gesicherte, ausgewiesene und vernetzte Flächen, nachhaltige Nutzung der Ressourcen im Lande, besseres Verständnis des Werts der Biodiversität (zentrale Lebensgrundlage) für die Volkswirtschaft, zudem soll die Schweiz ihre Verantwortung für die globale Biodiversität stärker wahrnehmen.

2011 soll die Strategie dem Parlament vorgelegt werden.

Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) bezeichnet die Biodiversität als das auf der Erde existierende Leben in seiner gesamten, natürlichen Vielfalt der Ökosysteme, Arten und Gene.

Der Erhalt der Biodiversität sei eine moralische Verpflichtung, aber auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit, schreibt das Bafu.

Ein Drittel der menschlichen Nahrung komme von Pflanzen, die durch wild lebende Tiere bestäubt würden. Natürliche Ökosysteme trügen zu einer guten Qualität des Trinkwassers bei.

Auswirkungen des Klimawandels auf die Biodiversität seien bereits erkennbar – so hätten sich gewisse Lebewesen in den Bergen schon um durchschnittlich 13 Meter in höhere Lagen zurückgezogen.

Ein nationales Biodiversitäts-Monitoring, das 2001 lanciert wurde, zeigt, dass mediterrane Arten, wie gewisse Schmetterlingsarten, sich in alpinen Regionen ansiedeln.

Eine Region der Welt mit einer ausgeprägten Biodiversität ist Borneo.

Auf der Insel wurden in den letzten Jahren 123 unbekannte Tier- und Pflanzenarten entdeckt, wie der WWF letzte Woche berichtete.

Insgesamt entdeckten die Forscher 67 Pflanzen, 17 Fische, 5 Frösche, 3 Schlangen, einen Vogel, 29 Wirbellose und 2 Echsen, heisst es in dem Report “Borneos neue Welt”.

Zu den neu entdeckten Tieren gehört auch das bisher längste Insekt der Welt – eine 56,7 Zentimeter lange Stabschrecke.

Schon 2004 war auf Borneo eine 10 Zentimeter lange Küchenschabe entdeckt worden.

“Borneo bildet ein eigentliches Biodiversitäts-Reservoir, deshalb setzt sich der WWF für den Schutz der mehr als 220’000 Quadratkilometer grossen Regenwaldfläche ein”, erklärte Felix Gnehm, Projektleiter beim WWF Schweiz.

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