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Schweiz wirtschaftlich auf Kriechspur

Professor Borner: Bürger ohne Marktbezug wählen leicht an der Wirklichkeit vorbei. University of Basel

Am Sonntag haben in der Schweiz Abstimmungen stattgefunden. Die direkte Demokratie kann jedoch laut Silvio Borner das Wirtschafts-Wachstum behindern.

Laut dem Wirtschaftsprofessor und Leiter der Angewandten Wirtschafts-Forschung der Uni Basel, haben zu viele Stimmende zu wenig Ahnung von der Wirklichkeit des Marktes.

Silvio Borner kam dieses Jahr in die Schlagzeilen. Er rechnete vor, dass die Schweiz jährlich drei Kühe mit dem gleichen Betrag subventioniert, den sie für ein Schulkind ausgibt.

Die hohen Landwirtschaftssubventionen sind aber nur ein Symptom tiefer greifender wirtschaftlicher und politischer Probleme.

swissinfo: Die Schweiz ist das einzige OECD-Land, in dem während der 1990er-Jahre das reale Wirtschaftswachstum pro Kopf nicht zunahm. Wie weit ist dies ein Problem?

Silvio Borner: Das hängt davon ab, ob man das Niveau der Wirtschaft oder ihre Wachstumsrate ansieht. Unser Wohlstand ist aus historischen Gründen noch immer auf einem sehr hohen Niveau, die Wachstumsraten dagegen haben sich in den letzten drei Jahrzehnten verlangsamt.

swissinfo: Warum ist es für ein reiches Land wie die Schweiz so wichtig, weiterzuwachsen? Können wir nicht einfach im “Schongang” weiterfahren und uns daran erfreuen?

S.B.: Wirtschaftlich ist es für ein Land einfacher, aufzuholen als vorne zu bleiben. Aber das heisst nicht, dass man überholt werden sollte. Im Fall der Schweiz haben uns nun in Bezug auf das Bruttoinlandprodukt pro Kopf mehrere Länder überholt. Der spektakulärste Überholer ist das früher sehr arme Irland.

Ausserdem brauchen auch reiche Länder Wachstum, zum Beispiel um Sozialprogramme zu finanzieren. Praktisch jedes grosse soziale oder politische Programm ist mit Wachstum besser zu lösen als ohne.

swissinfo: Wie viel Wachstum braucht also ein Land wie die Schweiz?

S.B.: Es ist ganz klar, dass wir nie mehr so spektakuläre Wachstumsraten haben werden wie zum Beispiel in den 1950er- und 60er-Jahren. Aber ich denke, wir sollten pro Jahr, pro Kopf und real ein oder zwei Prozent erreichen.

swissinfo: Warum wächst das Wachstum in der Schweiz langsamer?

S.B.: Laut der traditionellen Wirtschaftsanalyse lässt sich das zum Teil mit
der Wachstumsrate des Anteils der staatlichen Ausgaben erklären, im Vergleich zur Gesamtgrösse der Wirtschaft.

Doch lässt sich mit Modellen nicht einmal die Hälfte der Diskrepanz erklären. Wir müssen es also anders versuchen. Es gibt ausser diesen traditionellen Modellen zwei Möglichkeiten: Technologie und Politik.

Auch wenn es einige Ausnahmen gibt – zum Beispiel die neuen IT und Kommunikationstechnologien –, ist es nur schwer verständlich, dass die Schweiz technologisch in Rückstand geraten ist.

swissinfo: Wird das Geld am falschen Ort ausgegeben, oder wird einfach zu viel Geld ausgegeben?

S.B.: Ich denke, es wird am falschen Ort ausgegeben. So sind die landwirtschaftlichen Subventionen rund zweimal so hoch wie in der EU.

Auch einige Investitionen in den öffentlichen Verkehr werden von den Regionen aus politischen Gründen getätigt – so bauen wir zu viele Tunnels durch die Alpen und zu viele Parallellinien.

Weiter sind zu viele Sozialausgaben unwirtschaftlich – die Umverteilung von Reich zu Arm um die Mitte herum. Das könnte ein Resultat des politischen “status quo bias” der Schweiz sein.

swissinfo: Was meinen Sie damit?

S.B.: Das hat damit zu tun, dass wir über die meisten wichtigen Themen abstimmen. Ein Schlüsselfaktor ist, dass in der Schweiz, weil sie noch immer ein reiches Land ist, viele Leute von ihrem Ersparten leben können.

Deshalb haben sie zu wenig Ahnung von der Wirklichkeit des Marktes. So gibt es eine Art institutionellen Widerstand gegen Reformen, zum Beispiel im Bereich der Renten.

swissinfo: Was geschieht, wenn sich nicht bald etwas ändert?

S.B.: Ich denke, die politische Polarisierung wird zunehmen und es wird zu einem Reformstau kommen. Die Dinge werden sich erst ändern, wenn die Leute stärker unter der Situation leiden als jetzt.

Vielleicht merken sie aber, dass sie gar nicht so immun sind, wie sie dachten. So hängt zum Beispiel auch der Wert ihrer Ersparnisse von Faktoren ab, die der Markt beeinflusst.

Wenn die wirtschaftliche Entwicklung weiter stagniert, stagnieren auch die Einkommen – und das wiederum hat beispielsweise Auswirkungen auf den Marktwert der Immobilien.

swissinfo: Was wäre nötig, damit es schneller zu Änderungen kommt?

S.B.: Wenn Reformen im gegenwärtigen System nicht möglich sind, könnten wir der Europäischen Union beitreten. Dann wären wir einfach gezwungen, viele Reformen umsetzen. Zum Beispiel im Energiesektor, im Kartellrecht oder wo auch immer. Das ist allerdings nicht mein Wunschszenario.

swissinfo: Welches wäre denn Ihr Wunschszenario?

S.B.: Idealerweise hätten wir wie Norwegen dem Europäischen Wirtschaftsraum beitreten und gleichzeitig unsere politische Unabhängigkeit wahren sollen. Der Schweizer Franken hilft unserer Wirtschaft, und wir haben bestimmte politische Institutionen, die es wert sind, bewahrt zu werden.

Was die Zukunft angeht, finde ich es seltsam, dass die Regierung sagt, eine EU-Mitgliedschaft sei zur Zeit kein Thema. Vielleicht meint sie, die Mehrheit der Bevölkerung würde dagegen stimmen – aber das Thema verschwindet nicht einfach von selbst.

swissinfo, Interview: Chris Lewis
(Aus dem Englischen von Charlotte Egger)

Laut Borner gibt es die “Schweizer Illusion”, dass der erworbene Reichtum als Polster gegen wirtschaftliche Stagnation ausreicht.

Er glaubt auch, dass die direkte Demokratie in der Schweiz die Einführung dringend nötiger Reformen immer stärker behindert.

Borner sieht nur zwei Auswege – interne Reformen oder Reformen von aussen, das heisst, durch eine EU-Mitgliedschaft.

Die Schweiz, früher relativ arm, wurde nach der Mitte des letzen Jahrhunderts zu einem der reichsten Länder.
Seit dem Wachstums-Einbruch der Wirtschaft in den 1970er-Jahren aber verlor sie im Vergleich zu anderen OECD-Staaten laufend an Terrain.
Experten sind sich uneins, wie Wachstum am besten gemessen werden kann.
Doch die Wahl der Methode ändert nicht viel am Gesamtresultat.

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