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«Forensisches Puzzle» von Srebrenica

Im Re-Association Center werden Tausende Skelette der Opfer zusammengestellt, unter der Leitung von Cheryl Katzmarzyk. Norbert Rütsche

In Den Haag läuft der Prozess gegen Radovan Karadzic. Dem ehemaligen Serbenführer wird der Tod von Tausenden Menschen zur Last gelegt. Die von der Schweiz unterstützte Internationale Kommission für Vermisste Personen identifiziert deren sterbliche Überreste.

Der Geruch ist stechend und durchdringend, süsslich und scharf zugleich. Er brennt sich einem unauslöschlich in die Erinnerung ein: Es ist der Geruch des Todes. 3000 Plastiktüten lagern in meterhohen Regalen in einer der Leichenhallen der Internationalen Kommission für Vermisste Personen (ICMP) im nordostbosnischen Tuzla.

In jedem einzelnen Beutel liegen Knochen oder Teile davon – sterbliche Überreste von Menschen, die im Juli 1995 in der Gegend der ostbosnischen Kleinstadt Srebrenica systematisch ermordet und anschliessend in unzähligen Massengräbern verscharrt worden waren.

Dem fürchterlichsten Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg fielen 8000 muslimische Männer und Jungen zum Opfer. Für diese und andere Gräueltaten muss sich der einstige politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, seit dem 26.Oktober 2009 vor dem Haager Kriegsverbrecher-Tribunal verantworten. Bisher ist der Angeklagte dem Prozess ferngeblieben.

Trauma noch nicht überwunden

Auch 14 Jahre danach ist das Trauma von Srebrenica noch längst nicht überwunden. Tausende Menschen wissen bis heute nicht, was mit ihren Angehörigen damals passierte. Jetzt wollen sie wenigstens die sterblichen Überreste der Ermordeten finden, um diese in Würde bestatten zu können. Dabei setzen sie ihre ganze Hoffnung auf die ICMP.

Die Kommission hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gebeine jener Menschen zu identifizieren, die während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien verschwunden sind. Dabei nutzt die ICMP vor allem die DNA-Analyse und vergleicht die aus den exhumierten Knochen gewonnenen Daten mit jenen aus dem Blut der Verwandten. «Die DNA muss zu 99,95 Prozent übereinstimmen, dann gelten die sterblichen Überreste als identifiziert», sagt Pakica Colo von der ICMP.

Nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien galten rund 40’000 Menschen als vermisst und verschwunden, etwa 30’000 von ihnen allein in Bosnien und Herzegowina. Seit Beginn der DNA-Analysen im Jahr 2001 hat die ICMP auf dem Gebiet des gesamten früheren Jugoslawiens die Blutproben der Verwandten von fast 28’000 Vermissten untersucht. Durch den Vergleich von Blut- und Knochen-DNA konnten bis heute die sterblichen Überreste von 15’000 Menschen identifiziert werden. Die grosse Mehrheit – 12’600 – von ihnen kam während des Krieges in Bosnien und Herzegowina um, fast die Hälfte davon starb beim Genozid von Srebrenica.

Srebrenica intensivster Fall

Srebrenica ist denn auch jener «Fall», der die ICMP bis heute am intensivsten beschäftigt. Der Grund dafür ist nicht nur die grosse Zahl von getöteten Menschen. Vor allem ist es die Tatsache, dass die Leichen zum Teil mehrmals wieder ausgegraben und anderswo erneut verscharrt wurden.

«Als ein paar Monate nach dem Massaker Satellitenbilder der Massengräber auftauchten, wollten die Täter die Spuren verwischen», erklärt ICMP-Mitarbeiterin Jasmina Mameledzija. «Sie kamen nachts und als die Erde nass war. Mit schwerem Gerät luden sie die Leichen auf LKWs, viele Körper zerrissen, brachen auseinander». So konnte es vorkommen, dass von ein- und derselben Leiche der Schädel in einem, der Oberschenkel in einem anderen und die Rippen in einem dritten Massengrab landeten.

Zudem wurden Tausende Knochen zermalmt, von Planierraupen und Baggerschaufeln. «In einem Fall wurde das Skelett eines Mannes aus Knochen von vier verschiedenen Massengräbern zusammengesetzt», so Jasmina Mameledzija. «Oft kommt unsere Arbeit einem grossen forensischen Puzzle gleich».

Unzählige «Puzzles» lösen

Im Re-Association Center der ICMP in Lukavac bei Tuzla sind Anthropologen damit beschäftigt, diese unzähligen «Puzzles» zu lösen. Auf grossen Metall-Tischen versuchen die Spezialisten in akribischer Detailarbeit, die Skelette der einzelnen Menschen wieder zusammenzufügen. «Wir können nicht von jedem einzelnen Knochen eine DNA-Analyse machen», sagt Cheryl Katzmarzyk, die leitende forensische Anthropologin: «Wir ordnen die Knochen auch aufgrund ihres Alters, ihrer Abnutzung oder aufgrund von biologischen oder morphologischen Merkmalen zu».

Von den Opfern des Massakers von Srebrenica werden nur selten vollständige Skelette exhumiert. «Wir freuen uns schon, wenn wir wenigstens einen einzigen Knochen bekommen», sagt Nura Begovic. Das aktive Mitglied der Opfervereinigung «Frauen von Srebrenica» aus Tuzla hat beim Genozid ihren Vater, ihren einzigen Bruder, ihren Schwiegervater und über ein Dutzend weitere Verwandte verloren.

«Es ist so wichtig, unsere Liebsten beerdigen zu können, eine Grabstätte zu haben, zu der wir hingehen können». Sechs ihrer Angehörigen trug Nura Begovic bereits zu Grabe, von den anderen fehlt bis heute jede Spur.

Norbert Rütsche, Tuzla, swissinfo.ch

Die 1996 auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton gegründete Internationale Kommission für Vermisste Personen (ICMP) hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2010 die sterblichen Überreste von 20’000 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien vermissten Personen zu identifizieren.

Von den nach den Kriegen als verschwunden gemeldeten rund 40’000 Menschen fehlt noch heute von zirka 14’000 jede Spur – davon 10’000 allein in Bosnien und Herzegowina.

Auf Grundlage ihrer Erfahrungen im ehemaligen Jugoslawien hat die ICMP auch bei der Identifizierung von Tausenden von Opfern nach den Tsunamis in Asien oder dem Hurrikan Katrina in den USA eine führende Rolle gespielt.

Seit 2008 ist die ICMP mit einem Ausbildungs-Büro in Irak vertreten.

Die Internationale Kommission für Vermisste Personen (ICMP) verfügt für ihre Arbeit im Westbalkan seit 2000 über ein Budget von durchschnittlich etwa 8 Millionen US-Dollars pro Jahr.

Finanziert wird die ICMP vor allem von verschiedenen Regierungen, in erster Linie aus Europa und Amerika. Die grössten Geldgeber sind die USA, die Niederlande und Grossbritannien.

Auch die Schweiz unterstützt die Kommission seit mehreren Jahren: Bislang hat die Eidgenossenschaft der ICMP rund 900’000 Franken zur Verfügung gestellt.

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