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Shakespeares Verlust war Schillers Gewinn

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Was, wenn Shakespeare statt eines Schauspiels über einen tragischen dänischen Prinzen über einen dänischen Bogenschützen geschrieben hätte, der einen Apfel vom Haupt seines Sohnes schoss?

Dann wäre die Sage von Hamlet heute praktisch unbekannt, und Toko aus Dänemark und nicht Tell aus der Schweiz wäre in der ganzen Welt bekannt.

Schriftgelehrte sind fast sicher, dass Shakespeares Hamlet auf eine Geschichte zurückgeht, die erstmals im 12. Jahrhundert in Dänemark in der “Gesta Danorum” von Saxo Grammaticus auftauchte.

Falls Shakespeare das Buch, die Bearbeitung einer französischen Erzählung aus dem 16. Jahrhundert, gelesen hatte – was wahrscheinlich ist –, dann kannte er sicher auch die Geschichte vom dänischen Schützen namens Toko, der vom König den Befehl erhielt, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen.

Aber der Barde zog “Amleth” vor, Toko geriet in Vergessenheit und wurde schliesslich nur noch eine Fussnote in den zahllosen Essays über Wilhelm Tell.

Wie auch immer: Tell war nicht der erste Vater, der von einem bösen Tyrannen gezwungen wurde, einen lebensgefährlichen Schuss auf seinen eigenen Sprössling abzugeben.

Norwegische Jäger



Vor Tell gab es im 11. Jahrhundert zwei norwegische Jäger, Eindridi und Hemingr.

Im Versuch, Eindridi zum Christentum zu bekehren, befahl ihm König Olaf der Heilige, eine Schriftplatte vom Kopf seines Sohnes zu schiessen.

Die Episode nimmt ein abruptes Ende, als die Mutter des Sohnes einschreitet und der König zur Vernunft kommt.

Ungefähr um die gleiche Zeit erklärte sich ein Jäger namens Hemingr bereit, eine Reihe sportlicher Herausforderungen eines gewissen Königs Harald anzunehmen.

Haselnuss statt Apfel



Dummerweise gewinnt Hemingr dauernd, was den König in Wut versetzt und ihm keine Wahl lässt: Er zwingt den Schützen, eine Haselnuss vom Kopf seines Sohnes zu schiessen oder zu sterben.

Hemingr gelingt der Schuss und schliesslich übt er wie Tell Rache, indem er den Tyrannen tötet.

Ein Jahrhundert später passiert Ähnliches in Dänemark, wo Saxo Grammatikus die Geschichte aufgreift.

Der mittelalterliche dänische Gelehrte gab seinem Helden den Namen Toko – das war ein Krieger im Dienst eines Regenten aus dem 10. Jahrhundert, Harald Blauzahn.

Als sicher gilt, dass Blauzahn, der den Dänen das Christentum brachte, im Kampf gegen die Streitkräfte seines Sohnes starb.

Wie das genau geschah, ist heute ebenso Gegenstand von Spekulationen wie im 12. Jahrhundert, als Grammaticus in dichterischer Weise Ereignisse erfand, die zum Tod des Königs führten.

Betrunkener Held

Toko war nicht nur ein tapferer Jäger, sondern auch ein Trunkenbold und Angeber.

Einmal prahlt er im Rausch mit seiner Kunst als Schütze, worauf er von Blauzahn zu einem Schuss gezwungen wird wie schon Eindridi und Hemingr. – Aber diesmal mit einem Apfel.

Wie Tell behält er einen Pfeil im Köcher für den König, sollte der erste Schuss daneben gehen und seinen Sohn verwunden. Aber der Schuss trifft den Apfel.

Der König behält ihn als Geisel – genau wie es dem Schweizer Helden erging. Aber während Tell entkommt, indem er aus dem Boot auf einen Stein (die Tellsplatte) springt, ist Toko gezwungen, mit den Skiern eine steile Klippe ins Meer hinunter zu fahren.

Wunderbarerweise überlebt Toko. Er wird zu einem ausgezeichneten Vorbild für Tell, indem er den König aus einem Hinterhalt erschiesst.

William of Cloudesley

Ganze 200 Jahre vergehen, bevor ein weiterer Schützenheld auftaucht, der weiss, wie man böse Regenten mit einer Vorliebe für Äpfel aus der Fassung bringt .

Aber das geschah im mittelalterlichen Britannien, nicht in der Schweiz. Die Taten des Banditen aus den Wäldern sind in der alten englischen Ballade “Adam Bell, Clim of the Clough, and William of Cloudesley” verewigt.

Viel Blutvergiessen führt zur Schlussszene, die uns bekannt vorkommt:

“An apple upon his [son’s] head he set,
And then his bowe he bent;
Syxe score paces they were outmet,
And therefore Cloudeslé went…

“Thus Cloudeslé clefte the apple in two,
That many a man it se;
‘Over Goddes forbode’, sayd the kynge,
‘That thou sholdest shote at me!'”

In diesen Versen geht es um einen Apfel auf dem Kopf des Sohnes und um einen Bogenschützen, der den Apfel aus sechs Schritt Entfernung entzwei schoss. Schliesslich meinte der König, Gott möge verhüten, dass der Schütze auf ihn schiesse.

Weitere 40 Jahre vergehen, bis dann die Geschichte von Wilhelm Tell erstmals auftaucht.

swissinfo, Dale Bechtel
(Übertragen aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Vor Wilhelm Tell gab es mehrere mythische Helden, die ähnliche Heldentaten vollbracht haben:

Da waren die beiden norwegischen Jäger Eindridi und Hemingr sowie der dänische Held Toko, dessen Geschichte derjenigen Tells sehr ähnlich ist.

Auch eine alte englische Ballade aus der Zeit vor der ersten Erwähnung Tells erzählt die Geschichte eines Schützen, William of Cloudesley, der einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schoss.

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