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Stimme in die Vogelfreiheit

Christian Zehnder: Vogelfreier Sänger, der mit der Stimme Grenzen überwindet.

Der Schweizer Sänger Christian Zehnder, 46, geht stimmlich an die Grenzen - stilistisch kennt er keine. Auf seinem ersten Solo-Werk "Kraah" verschmelzt er Jodel, Obertongesang mit Jazz und Klassik.

In der Stadt, den Bergen und der weit entfernten Steppe: Christian Zehnders Stimme ist überall zu Hause. Wie die Raben, denen er seine “Kraah”-Lieder widmet.

Ein Zürcher, der in Basel lebt. Ein Städter, der die Berge liebt. Und die öden Steppen in Tuva, der ehemaligen Sowjetrepublik am Fuss des Altaigebirges in Sibirien.

Christian Zehnder ist Schweizer. Aber er misst die Welt aus. Nicht mit Satellitennavigation, sondern mit seiner Stimme.

Er jodelt, entfacht brachiales Kehllaut-Tosen, sirrt und flirrt verstörend-reine Obertöne. Tüftelt und probt. Gewinnt absolute Kontrolle über sein Organ. Und nach jahrelanger Bühnenarbeit auch über das Publikum – gemeinsam mit Bläser Balthasar Streiff als “Duo Stimmhorn”.

Verkannte Singstimme

Dann entdeckt er einen Seelenverwandten. Einen Singvogel. Nicht die Nachtigall, sondern den Raben. Für Stadtbewohner eine krächzende Plage, für Bauern ein Saaträuber, für Mystiker ein Todesbote.

Für die Ornithologen sei der Rabe die Krönung der Singvogel-Evolution, schreibt Christian Zehnder im Begleittext zu “Kraah”. Raben verfügten über ein enormes Stimmenspektrum. Sie nützten dies aber nur selten und kaum hörbar. Etwa beim leisen Plaudergesang während der Nistzeit.

Die Seelenverwandtschaft: Auch die Menschen nützen die Möglichkeiten ihrer Stimme nicht aus. Zehnder ist eine Ausnahme. Er lässt das Halszäpfchen Jodel-Purzelbäume schlagen, wechselt ansatzlos in synthetisch anmutenden Obertongesang, um eine finale Attacke von Gurr- und Kratzlauten aus tiefsten Stimmregistern auf die Zuhörenden loszulassen.

Kein reiner Ohrenschmaus

“Der brachiale Stimmbereich gilt in unserer Kultur nicht als Gesang, er ist eher verpönt”, sagt Zehnder. Es sei der Schönklang, den das Publikum in der Stimme suche.

Zehnder bedient dieses Sehnen. Im wortlosen, metallisch-schwebenden Obertongesang, der ein Schweben zwischen Himmel und Erde evoziert. Dessen Technik hat er wie kaum jemand in der westlichen Stimmwelt perfektioniert.

Dadaistische Sprach- und Lautspiele

Bevor das Publikum in die Transzendenz abhebt, holt es Zehnder unvermittelt auf die Stühle zurück, mit einer kurzen Art-Brut-Eruption und einem schelmischen Lächeln.

Ob er jodelt, jazzige Phrasen intoniert oder seinen klassisch ausgebildeten Bariton ertönen lässt: Zehnders Gesang kommt ohne Text aus, ist vielmehr lautmalerisch-dadaistisches Spiel mit Silben, Wort- und Satzfetzen. Nur so könne er mit der Stimme Musik evozieren. Durch Text fühlt er sich “festgenagelt”.

Distanziert-fasziniert

Zehnder hat seine Wurzeln in der Stadt. Das Urbane bietet ihm aber zu wenig Spannung. Darum schlägt er einen Bogen zum Archaischen, das er in den Bergen sucht – und findet. Etwa bei den eigenständigen Jodlern im Muothatal, die ihn stark inspirierten. Oder im St. Galler- und Appenzellerland, wo ihn das freie “Zäuerlen” (Juzen) beeindruckt.

Der Städter Zehnder behält trotz aller Faszination der “urchig-lebendigen Tradition” Distanz. Seine Arbeit sieht er als “sehnsüchtige Annäherung” an die Alpen und ihre Bewohner. Dadurch bleibt er “extrem frei”.

Diese Freiheit ist es, die er in der heutigen Volksmusik vermisst. Die traditionelle Volksmusik bezeichnet Zehnder als “inszeniert und verlogen”. Jodeln nach Reglement, wie am Eidgenössischen Jodlerfest gefordert, davor graust ihm. “Was ich mache, ist dort verboten. Das macht die Musik kaputt”, sagt Zehnder.

Unverwechselbare Töne

Tausende Kilometer entfernt der Heimat, wird er für seine anarchistische Musik geschätzt. In der autonomen sibirischen Republik Tuva, wo Obertongesang zur Volksmusik gehört wie in der Schweiz das Jodeln, wird Zehnder gefeiert. Dafür, dass er eigenständige Obertöne singt, die “höher im Kopf schwingen” als die gutturale Variante der dortigen Gesangstradition.

Bei Zehnders Auftritt hörten die Tuva auch zum ersten Mal, dass Obertöne rhythmisiert gesungen werden können, ähnlich dem Spiel einer Maultrommel.

Dieser “europäische” Obertongesang Zehnders ist das Resultat harter Arbeit an seiner Stimme. 15 Jahre Tüftelei und stetes Proben brauchte er, damit er zum unverwechselbaren persönlichen Ausdruck gefunden hat.

In der Jurte

Am Fusse des Altai-Gebirges ist Zehnder mehr als der gefeierte Oberton-Virtuose mit umgekehrtem Exoten-Bonus. Mit Huun-Huur-Tu, einem tuvainischen Quartett von traditionellen Oberton-Sängern, verbinden ihn gemeinsame Tourneen und mittlerweile Freundschaft.

Begleitet er die Huun-Huur-Tu zu deren Verwandten in die Steppe, ist er fasziniert. Von deren “archaischem” Leben in Jurten mitten in jener “Urlandschaft”, von der harten Arbeit als Pferde- und Schafzüchter.

Doch verklären tut er dieses Leben nicht. Er ist ein zu genauer Beobachter, als dass ihm der Typus des neuen Nomaden entgangen wäre: des städtischen Grossgrundbesitzers, der mit dem Geländewagen in die Steppe fährt, um nach seinen Tieren zu sehen.

Faszinierend und liebenswürdig

Auch Christian Zehnder hat am Fusse des Altai einen Verwandten wieder getroffen: den Raben. Gleich dem Sänger ist er überall heimisch, in der Stadt, auf dem Land, in den Bergen. “Der Rabe ist verrufen, lebt von der mystischen Verteufelung. Ich will zeigen, dass er etwas Faszinierendes und Liebenswertes hat”, sagt Zehnder.

Umgekehrt zeigt der Rabe, dass ein Mensch fliegen kann, weg aus der heimischen Stadt in die Alpen. Und von dort bis in weit entfernte Schneeberge. Nur getragen von seiner Stimme.

swissinfo, Renat Künzi, Basel

Christian Zehnder: Gesang, Wippkordeon, Bandoneon, Laudola.
Georg Breinschmid: Kontrabass.
Thomas Weiss: Perkussion.

Gastmusiker: Noldi Alder (Violine), Christoph Marthaler (Blockflöte), Don Li (Klarinette), Anton Bruhin (Maulorgel).
casalQuartett: Streicherensemble.
Fortunat Fröhlich: Cello/Orchestrierung.

1961 in Zürich geboren, lebt und arbeitet in Basel.

Ausgebildeter Stimmpädagoge (Bariton).

Seit 1996 bildet er zusammen mit dem Bläser Balthasar Streiff das Duo Stimmhorn.

Konzerttouren in Europa, Kanada, Afrika, Japan, und Pakistan.

Künstlerische Projekte mit u.a. dem tuvinischen Quartett Huun-Hur-Tu und dem südafrikanischen Oberton-Chor Noquolnquo.

Neben dem Duo Stimmhorn, das weiter besteht, hat Zehnder mit der jüngst veröffentlichten CD “Kraah” eine Solo-Karriere gestartet.

Stefan Schwietert porträtiert darin den Stimmkünstler Christian Zehnder, die Sängerin Erika Stucky sowie den Sänger und Geiger Noldi Alder.

Sie teilen die Verwurzelung in der Volksmusik, befreiten sich aber aus deren traditionellem Korsett und entwickelten eigene künstlerische Ausdrucksformen. Sie schaffen so je eine authentische, weltoffene Volksmusik.

Für den Film hat Schwietert zahlreiche Preise erhalten. So an den Filmfestspielen Berlin, am Internationalen Filmfestival Athen und am Schweizer Festival Visions du réel in Nyon.

“Heimatklänge” ist nominiert für den europäischen Filmpreis, der am 1. Dezember in Berlin vergeben wird.

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