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Vollzugsprobleme bei Ausschaffungen?

Sind Jugendliche resozialisierbar, wenn ihnen eine Ausschaffung droht? Keystone

Soll ein wegen eines Einbruchsdelikts verurteilter Jugendlicher ohne Schweizer Pass nach Verbüssen seiner Strafe automatisch aus der Schweiz ausgeschafft werden wie ein Gewaltkrimineller oder Vergewaltiger? Viele sagen Ja, viele Nein. Eine Antwort folgt bald.

Die letztes Jahr vom Schweizer Stimmvolk mit rund 53% angenommene Initiative zur Ausschaffung straffällig gewordener Ausländer ist noch nicht im Strafgesetz verankert.

Eine Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative hat nun Vorschläge erarbeitet, wie der Volkswille umgesetzt werden kann. Diese werden am 28. Juni der Öffentlichkeit präsentiert.

Die Initiative definiert in der Bundesverfassung neu, dass Ausländerinnen und Ausländer ihr Aufenthaltsrecht bei der Verurteilung folgender Vergehen verlieren: vorsätzliche Tötung, Vergewaltigung oder anderes schweres Sexualdelikt, Gewaltdelikt wie Raub, Menschenhandel, Drogenhandel, Einbruch, missbräuchliche Leistungen der Sozialversicherungen oder Sozialhilfe.

Dorn im Auge

Nun soll der Volkswille in Gesetzesbuchstaben umgewandelt werden: eine anspruchsvolle Aufgabe für die im letzten Dezember eingesetzte Arbeitsgruppe. Während einerseits die Initiantin, die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), energisch auf einer buchstabengetreuen Umsetzung der Initiative beharrt, ist den meisten Kritikern die Vereinfachung, wie die Initiative das Problem mit straffällig gewordenen Ausländern lösen will, ein Dorn im Auge.

Weitgehend unbestritten ist, dass ein Gewaltverbrecher, ein Vergewaltiger nach der Verbüssung seiner Strafe automatisch des Landes verwiesen werden soll. Nach dem Willen der Initianten soll aber auch ein Jugendlicher, der zum ersten Mal einen kleinen Einbruch verübt hat, genauso von der automatischen Ausschaffung betroffen sein. Und da hat sich Widerstand formiert.

Verhältnismässigkeit

In der Arbeitsgruppe wurde deshalb eine Mindeststrafe diskutiert, welche eine automatische Ausweisung zur Folge hätte. So müsste etwa ein Jugendlicher, der für seinen Einbruch zu drei Tagessätzen à 25 Franken verurteilt würde, nicht ausgewiesen werden.

Zu beachten ist laut den Befürwortern der Mindeststrafe auch die Verhältnismässigkeit. Der Gesetzgeber dürfe nichts ins Gesetz schreiben, was nicht verhältnismässig sei. Auch dies stehe in der Verfassung, wird argumentiert.

Man könne doch nicht jede Volksinitiative verabsolutieren, sie als das Mass aller Dinge darstellen und den Rest des Verfassungsrechts nicht beachten, wird hinter vorgehaltener Hand erzählt.

Grosse Differenzen

Weiter müssen laut Strafgesetzbuch, Artikel 27, bei der Strafzumessung persönliche Eigenschaften und Umstände berücksichtigt werden, welche die Strafbarkeit erhöhen, vermindern oder ausschliessen. Auch das wäre bei einer strikten Anwendung der Ausschaffungs-Initiative nicht gewährleistet. Gefordert wird ja die Ausschaffung nach Delikt und nicht nach der Schwere der Tat.

Details sind nicht zu erfahren, denn die Arbeitsgruppe hat beschlossen, bis zur Präsentation keine offiziellen Stellungnahmen oder Auskünfte zu erteilen.

Offensichtlich ist: Die Ansichten und Meinungen klaffen weit auseinander. Die Lösungsvorschläge der Arbeitsgruppe werden deshalb mit Interesse erwartet. Man darf annehmen, dass für bestimmte Paragraphen unterschiedliche Lösungsvorschläge vorgelegt werden.

Erhebliche Auswirkungen

Zurückhaltend reagierten auch von swissinfo.ch angefragte Strafvollzugs-Behörden mehrerer Kantone. Sie waren nicht bereit, sich vor der Präsentation der Arbeitsgruppe konkret zum Thema zu äussern.

Würde die Ausschaffungspraxis im Sinn der Initianten der Ausschaffungs-Initiative auch bei jugendlichen Straftätern vollzogen, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf den Massnahmenvollzug, der die betroffenen jungen Erwachsenen resozialisieren soll, sagen Betreuende, die anonym bleiben wollen. Das Ziel, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, sehen sie klar in Frage gestellt.

Kann ein straffällig gewordener Jugendlicher in einer Anstalt eine Lehre machen, ist dies sicher schon ein wertvoller Beitrag des Massnahmenvollzugs. Die Befürworter einer harten Ausschaffungspolitik finden denn auch, dass man zum Beispiel als gelernter Schreiner eine gute Chance habe, nach seiner Ausweisung in der fremden Heimat eine Arbeit zu finden.

In den Massnahmenvollzugs-Anstalten wird die Resozialisierung jedoch um einiges weiter definiert: Sie arbeiten mit schrittweisen Öffnungen, soweit es eben die Gefährlichkeit des Delinquenten gegenüber der Öffentlichkeit zulässt.

Der Wiedereintritt in die Gesellschaft soll stufenweise erfolgen. Diese Stufen können zum Beispiel Schulbesuche in externen Schulen sein oder, entsprechend der Vollzugsstufe, auch Urlaub.

Persönlichkeitsentwicklung

Mit der verschärften Ausweisungspraxis wären diese Resozialisierungs-Massnahmen in Frage gestellt, meinen Betreuer. Wenn von vornherein klar ist, dass jemand nach Verbüssung seiner Strafe das Land verlassen muss, dann darf man diese Person auch nicht mehr aus der Vollzugsanstalt hinauslassen. Und dies, befürchten Fachleute, die auch nicht namentlich genannt werden möchten, würde die gesamte Therapie in Frage stellen.

Die Gegner einer absoluten Ausschaffungspflicht weisen auch auf die noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung bei Jugendlichen hin. Man sollte jungen Straftätern eine Chance geben und Hilfestellungen. Und wenn diese den Wink der Gesellschaft verstanden hätten, sollten sie auch bleiben dürfen und mit ihren Steuerzahlungen der Gesellschaft wieder zurückgeben, was diese für sie getan habe.

Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), hat Ende 2010 die Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative eingesetzt.

Deren Bericht soll Ende Juni 2011 der Öffentlichkeit präsentiert werden. Leiter der Arbeitsgruppe: Heinrich Koller, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Justiz.

Weitere Mitglieder: Manuel Brandenberg, Gregor Rutz (Initianten), Margrith Hanselmann, Roger Schneeberger (Konferenzen der kantonalen Sozial-, Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren), Albrecht Dieffenbacher und Ridha Fraoua als Vertreter der Verwaltung.

Die Arbeitsgruppe beschäftigte sich unter anderem mit:

– der Auslegung neuer Verfassungsbestimmungen im verfassungs- und völkerrechtlichen Kontext

– der Tragweite des Verhältnismässigkeits-Grundsatzes
– der Konkretisierung des Deliktskatalogs der Definition des missbräuchlichen Bezugs von Sozialleistungen

– Vor- und Nachteilen der rechtlichen Umsetzung im Strafrecht bzw. im Ausländerrecht

– Anpassungen im geltenden materiellen Recht und im Verfahrensrecht

– Vereinbarkeit der Umsetzungsvorschläge mit Bundesverfassung und Völkerrecht.

Für die im Strafgesetzbuch als Massnahme besonderer Art ausgestaltete künftige Landesverweisung liegen offenbar drei Vorschläge vor, darunter ein Vorschlag des Initiativkomitees.

Die Arbeitsgruppe ist sich einig, dass das zum zwingenden Völkerrecht gehörende Rückschiebungsverbot, das auch in der Bundesverfassung garantiert ist, in allen Fällen zu beachten ist.

Das Schweizer Stimmvolk hat am 28. November 2010 die

Ausschaffungs-Initiative der SVP mit 52,9% angenommen.

17,5 der 23 Kantone stimmten zu.

Ein Gegenentwurf scheiterte mit 54,2% Nein.

Stimmbeteiligung: 53%.

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