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Als Kinder über den Gotthard geschmuggelt wurden

Zeichnung Gotthardpass, Schweiz
Eine Winterreise über den Gotthard im Jahr 1790, nach Zeichnung von Johann Gottfried Jentzsch. PDM 1.0 DEED

Im 19. Jahrhundert wurden uneheliche Kinder nach der Geburt aus der Innerschweiz nach Mailand transportiert. Ein lukratives Geschäft, das europaweit für Aufsehen sorgte.

Am 4. Dezember 1807 wurde das 500-Seelen-Dorf Flüelen schlagartig über die Landesgrenzen hinaus bekannt. “Der Ort, wo die Kinder-Händler wohnen, heisst Flühlen, ein Dorf nahe bei Altorf in Uri”, begann der Leitartikel im Schweizerboten.

Der Bericht unter dem Titel “Über einen entsetzlichen Missbrauch in der Schweiz, oder über Kindsverkäuferei” beleuchtete zum ersten Mal ein dubioses Urner Geschäftsmodell: Seit gut zehn Jahren waren uneheliche Kinder aus der Schweiz über den Gotthard ins Findelhaus nach Mailand gebracht worden.

1780 war dort mit der Pia Casa degli Esposti e delle Partorienti eine Institution gegründet worden, die über eine europaweit einzigartig liberale Aufnahmepraxis verfügte. Während es in der damaligen Eidgenossenschaft kein einziges Waisenhaus gab, das uneheliche Kinder aufgenommen hätte, konnten in dem von der Kaiserin Maria Theresia gegründeten Heim grundsätzlich alle ihre Kinder abgeben und irgendwann zurückholen, ohne dafür bestraft zu werden.  

Die Berichterstattung des Schweizerboten schlug hohe Wellen, Zeitungen aus Wien und Augsburg berichteten über das Geschäft der “Kindsverkäuferei”.  

Dadurch fühlten sich auch in Uri die Behörden unter Druck gesetzt, den Vorwürfen nachzugehen. Wie dieses Geschäft genau ablief und wer daran alles beteiligt war, weiss man heute aus diesen Nachforschungen.

Zwar war Flüelen nicht der einzige Umschlagplatz, über den uneheliche Kinder im 19. Jahrhundert nach Italien gebracht wurden. Ähnliche Geschäfte wurden ebenso in Küssnacht, Rapperswil und St. Gallen betrieben. Im Kanton Uri, der über alte traditionelle Handelswege nach Italien verfügte, nahm das Phänomen jedoch seinen Anfang.

Hier begannen Ende des 18. Jahrhunderts die Familien der Hebamme Maria Huber und des ehemaligen Lehrers Franz Josef Kempf, uneheliche Kinder im Säuglingsalter aus der Eidgenossenschaft wegzubringen. Allein zwischen 1803 und 1807 gingen etwa 60 Kinder durch die Hände der Familie Huber und Kempf.

Zeichnung Dorf Flüelen; Schweiz
Das Dorf Flüelen im Jahr 1820, gezeichnet von Gabriel Ludwig Lory. PDM 1.0 DEED

Der Pfarrer war beteiligt

So auch die Kinder von Josepha Mathis aus dem nidwaldnerischen Wolfenschiessen. Die junge Frau war mit Zwillingen schwanger geworden, doch der Vater der Kinder wollte sie nicht heiraten.

1808 wurde Josepha von den Urner Behörden zu den Vorgängen verhört. “Da der Bub nicht gewollt, hab ihr Herr Landammann und Herr Pfarrer gerathen, wenn an ein Ort sich wegbegeben könnte, würde es gut seyn”, hält das Verhörsprotokoll fest.

So brachte sie ihre Zwillinge heimlich bei der Familie Huber zur Welt. Unterkunft und Transport der beiden Kinder nach Italien wurden vom Vogt des jungen Vaters bezahlt. Die Kinder sollten Mailand jedoch nie erreichen. Sie starben auf dem Weg in Bodio.

Einige der Säuglinge starben sogar schon vor Ort. Deshalb waren neben Hebammen, die bei der Geburt halfen, auch Pfarrer und Sigristen am Geschäft beteiligt. Sie waren dafür verantwortlich, neugeborene Kinder zu taufen und gestorbene heimlich auf dem Friedhof zu beerdigen.

Die kleinen Körper wurden in frische Gräber gelegt – “damit es die Leut am wenigsten achten”, wie Sigrist Megnet aus Flüelen im Verhör am 22. Dezember 1807 aussagte. Diejenigen, die überlebten, wurden auf ein Tragegestell geschnallt und zu Fuss über den Gotthard getragen, immer mehrere aufs Mal. Um die Säuglinge ruhig zu stellen, verabreichte ihnen Josef Kempf eine gute Dosis Theriak, eine Universaltinktur, die Anfang des 19. Jahrhunderts zusätzlich mit Opium angereichert wurde.

In Mailand wurden die Kinder ins Findelhaus gebracht. Kindertransporteure aus der Schweiz konnten offiziell keine Kinder abgeben, eigentlich galt das Angebot nur für die Bewohner:innen des ehemaligen Herzogtums Mailand.

Um die Kinder dorthin zu bringen, legten sie diese in die Drehlade (Babyklappe) oder arbeiteten mit Mailänder Hebammen zusammen. Zurück brachten sie oftmals gefälschte Spitalscheine. Es bleibt deshalb unmöglich zu sagen, wie viele Säuglinge es wirklich bis nach Mailand geschafft haben und wie viele auf dem Weg gestorben oder in anderen Findelhäusern zurückgelassen worden waren.

Das Jahrhundert der Findelkinder

Das 19. Jahrhundert sollte sich für das Geschäft des “Kindervertragens” als äusserst lukrativ herausstellen. In ganz Europa stieg im Laufe dieses Jahrhunderts die “Illegitimitätsrate” stark an, oft wird deshalb vom “Jahrhundert der Findelkinder” gesprochen.

Auch in Uri und der restlichen Schweiz stieg die Rate unehelicher Geburten an – in Uri von einer unterdurchschnittlich niedrigen Rate von 0,3% um 1800 auf 5,7% um 1858.

Die Gründe für diesen starken Anstieg sind nicht vollumfänglich geklärt. Sicherlich dazu beigetragen hat das rasante Bevölkerungswachstum jener Zeit. Modernisierung und Industrialisierung führten zu einer tiefgehenden Veränderung der Arbeits- und Lebenswelten. Insbesondere junge Menschen wurden mobiler und zogen früh aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld weg, um andernorts Arbeit zu suchen.

Dadurch fiel nicht nur die soziale Kontrolle weg, gerade junge Frauen befanden sich auch oft in besonders vulnerablen Anstellungsverhältnissen. Dass eine Magd vom Meister geschwängert wurde, war nicht ungewöhnlich.

Hinzu kamen im Laufe des 19. Jahrhunderts neue rechtliche Ehehindernisse. So führte Uri 1810 ein Armengesetz ein, das Menschen, “die ihr Leben in Liederlichkeit und sittenlos dahin gebracht, das Ihrige durchgejagt, oder sonst im trägen Bettel oder in Ausschweifung dahinleben”, die Ehe verbot. Die Gesetze sollten verhindern, dass Armut weitervererbt wurde. Faktisch hatten sie das Gegenteil zur Folge.

War es vorher üblich gewesen, dass voreheliche sexuelle Beziehungen eine Ehe einleiteten, war dies für die ärmere Bevölkerungsschicht nun nicht mehr möglich. Die Kinder wurden unehelich geboren, die Frauen gerieten in einen Teufelskreis aus gesellschaftlicher Stigmatisierung und wirtschaftlicher Not.

Bild von Gioacchino Toma 1877
“La guardia alla ruota dei trovatelli” gemalt von Gioacchino Toma 1877. Gezeigt wird die Bewachung einer Babyklappe. PDM 1.0 DEED

Von der Gesellschaft ausgeschlossen

Anfang des 19. Jahrhunderts war eine uneheliche Schwangerschaft für die betroffene Frau mit schweren rechtlichen und sozialen Folgen verbunden. Von ihr wurde erwartet, dass sie sich selbst anzeigte und den Namen des Vaters bekannt gab. Wollte oder konnte sie das nicht, wurde während der Geburt das sogenannte “Geniessverhör” angewandt. Man ging davon aus, dass eine Frau unter Geburtsschmerzen nichts Anderes als die Wahrheit sagen konnte.

Für die Frauen war diese folterartige Praxis zweischneidig. Einerseits war es sehr belastend, während der Geburt eine Aussage tätigen zu müssen. Andererseits erhielten sie damit die Möglichkeit, auch den Vater zur Rechenschaft zu ziehen, der danach das Kind anerkennen und für dieses aufkommen musste.

Nach der Geburt wurden sowohl Mutter als auch Vater des unehelichen Kindes bestraft, wobei die Strafen von Geldstrafen über Körper- und Ehrstrafen bis hin zu Gefängnis reichen konnten. Zwar blieben danach insbesondere die ledigen Mütter im Visier der Behörden. Aber auch die Väter fürchteten um ihren Ruf.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich um die Wende zum 19. Jahrhundert hin in Uri ein Geschäft daraus entwickelte, uneheliche Kinder im Geheimen zur Welt und dann aus der Eidgenossenschaft weg zu bringen.

Diesen Ausweg konnten sich allerdings nicht viele leisten. 90 Gulden verlangte Josef Kempf für den Transport eines Kindes. Eine ungeheure Summe bei einem jährlichen Durchschnittslohn von nicht einmal 200 Gulden. Auf das Netzwerk der Kindertransporteure griffen deshalb meist gutgestellte Männer zurück, die aussereheliche Beziehungen eingegangen waren und nun ihren Ruf nicht gefährden wollten. Ein Grossteil der Frauen waren Mägde, viele stammten ursprünglich nicht aus dem Kanton Uri. Sie hatten oft wenig mitzubestimmen und wurden überredet oder sogar dazu gezwungen, ihre Kinder wegzugeben.

Und auch die Obrigkeiten hatten Interesse daran, uneheliche Kinder loszuwerden. So erteilte 1808 die Gemeindeverwaltung des luzernischen Grossdietwil Josef Kempf offiziell den Auftrag, ein uneheliches Kind nach Mailand zu bringen, um die Gemeinde vor weiteren Kosten und “vor den Folgen einer belästigenden Nachkommenschaft, welche durch diesen Knaben einstens erwachsen könnte” zu schützen.

Unehelichkeit bleibt ein Stigma

1807 wird auf das mediale Echo hin zwar ein vorläufiges Verbot des Kindertransports erlassen. Aber niemand hat wirklich ein Interesse daran, das Verbot durchzusetzen. Zu gewinnbringend ist das Geschäft, zu gross die Nachfrage, zu nützlich für die Obrigkeiten, die uneheliche Kinder nur als potentielle Kostenpunkte betrachten.

Am 28. Mai 1814 wird das Verbot denn auch wieder aufgehoben. Die Begründung: Es würde sowieso transportiert, wenn nicht von Urnern, dann von Auswärtigen. Zwar knüpften die Urner Behörden nun einige Bedingungen an den Transport der Kinder – zum Beispiel sollten sie mindestens acht Wochen alt sein – diese wurden aber kaum eingehalten.

Es war der Schweizerbote, der 1814 wieder darüber berichtete: “Der berüchtigte Kindermäckler Huber in Küsnacht fährt noch immer fort, unehelich-geborne kleine Kinder nach Mailand zu transportieren, und er treibt gegenwärtig dieses unmenschliche Gewerbe mehr als je.”

1820 beschwerte sich dann auch der Luzerner Polizeirat und forderte Uri auf, dem “Unfug endlich ein Ende zu setzen”. Daraufhin rangen sich die Urner Behörden zu einem definitiven Verbot durch und setzten jeglichen Transport von unehelichen Kindern nach Italien unter Gefängnisstrafe.

Dass die Nachfrage damit nicht vom Tisch war, zeigt eine Debatte des Schwyzer Kantonsrats von 1842. Verhandlungsinhalt ist der Fall eines unehelichen Säuglings, der ins Findelhaus nach Como gebracht worden war. Das Geschäft des Kindervertragens kam erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Ende, als auch in der Schweiz die ersten Waisenhäuser eingerichtet und 1874 im Zuge der Revision der Bundesverfassung alle Ehehindernisse ausser Kraft gesetzt wurden.

Die rechtliche Ungleichbehandlung unehelicher Kinder und damit auch das gesellschaftliche Stigma sollte aber noch ein ganzes Jahrhundert andauern. Erst seit der 1976 durchgeführten Kinderrechtsreform sind uneheliche und eheliche Kinder in Bezug auf Erbrecht, Bürgerrecht und Namensrecht gleichgestellt.

Bis Mitte der 1970er-Jahre gab es Zwangsarbeit in der Schweiz – mit Erziehungsauftrag:

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