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Die Schweiz muss beweisen, dass sie auf der Seite der Guten steht

Bild des Schweizer Kreuzes. Eine Hand gemalt mit G7-Flaggen im Tauziehen. Eine Karte der ukrainischen Demonstranten von Russland
Die Schweiz wurde von den G7-Ländern wegen der Durchsetzung von Sanktionen heftig kritisiert. Ist die Kritik gerechtfertigt? Illustration: Helen James / SWI swissinfo.ch

Der Krieg in der Ukraine sollte ein Wendepunkt für die Schweiz sein, um ihre Einstellung zur Transparenz zu ändern, sagt Tom Keatinge, Experte für Finanzkriminalität und Sanktionen.

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat die Schweiz im Gleichschritt mit der Europäischen Union elf Sanktionspakete umgesetzt. Aber wie gut sie die Sanktionen durchführt, ist höchst umstritten.

Die Schweiz hat russische Vermögenswerte in Höhe von 7,5 Mrd. CHF (8,1 Mrd. USD) eingefroren. Der US-Botschafter in Bern, Scott Miller, erklärte im März 2023, ohne nähere Angaben zu machen, dass dies nur ein Bruchteil dessen sei, was gesperrt werden könnte.

Einige Wochen später richteten die G7-Botschafter:innen in Bern ein Schreiben an die Schweizer Regierung, in dem sie Schlupflöcher im Schweizer System kritisierten, die es ermöglichen, Sanktionen zu umgehen. Die Schweizer Regierung wies die Kritik zurück und verteidigte ihre Sanktionsbilanz.

Der Experte für Sanktionen und Finanzkriminalität Tom Keatinge vom britischen Think-Tank Royal United Services Institute (RUSI) macht sich Gedanken darüber, wie die Schweiz die Welt davon überzeugen kann, dass sie die Sanktionen umsetzt.

SWI swissinfo.ch: Die Schweiz wurde von den G7-Staaten und anderen Ländern heftig kritisiert, dass sie nicht genug tut, um die Sanktionen gegen Russland durchzusetzen. Stimmen Sie dem zu?

Tom Keatinge: Die Schweiz befindet sich in einer interessanten Lage. Sie ist ein Land, das in den Augen der Welt bis zum Ende einer Generation schuldig bleiben wird. Ich denke also, dass die Schweiz über sich hinauswachsen muss, um die Menschen davon zu überzeugen, dass sie auf der Seite der Guten steht und um ihre Unschuld zu beweisen.

Die Schweiz steht unter dem Druck der G7, aber das Land ist auch in gewisser Weise in einer schwierigen Lage, weil es Entscheidungen in Brüssel mittragen muss. Mit anderen Worten, sie sitzt nicht mit am Tisch in Brüssel, aber sie hat verfassungsmässig beschlossen, dass sie alles umsetzen wird, was in Brüssel beschlossen wird, wenn es um Sanktionen geht.

Das führt unweigerlich zu einem Missverhältnis, da sie am Ende möglicherweise Massnahmen umsetzen muss, mit denen sie nicht einverstanden ist.

Tom Keatinge, Experte für Sanktionen
Tom Keatinge ist der Gründungsdirektor des Zentrums für Studien zur Finanzkriminalität und Sicherheit am Royal United Services Institute (RUSI), dem ältesten Think Tank der Welt für Verteidigung und Sicherheit. Bevor er 2014 zum RUSI kam, war er 20 Jahre lang als Investmentbanker bei J.P. Morgan tätig. RUSI

Die Schweizer Regierung hat zugegeben, dass die Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer:innen von Unternehmen eine grosse Herausforderung bei der Durchsetzung von Sanktionen darstellt. Es gibt nun Überlegungen, ein zentrales Register der wirtschaftlichen Eigentümer:innen einzurichten. Würde dies helfen?

Ohne ein transparentes Unternehmensregister ist die Fähigkeit, Sanktionen wirksam umzusetzen, erheblich eingeschränkt. Wie kann ein Land behaupten, dass es keine Verbindung zwischen einer sanktionierten Person und einem in seinem Hoheitsgebiet tätigen Unternehmen gibt, wenn ihm nicht alle Informationen zur Verfügung stehen?

Journalist:innen werden schnell herausfinden, dass es eine Verbindung gibt – dies ist ein wertvoller Dienst, den die Medienindustrie seit einigen Jahren leistet.

Ich denke, ein gutes Unternehmensregister ist, um einen Kollegen in Lettland zu zitieren, das “Rettungsboot, auf das man sich verlassen kann, wenn man Vertrauen in die Umsetzung von Sanktionen haben will”.

Wenn Sie kein anständiges Unternehmensregister haben, werden Sie die Menschen nicht davon überzeugen können, dass Sie unschuldig sind. Wir können darüber diskutieren, ob sie öffentlich zugänglich sein sollten oder nicht, aber wenn die Behörden keinen Zugang zu den notwendigen Informationen haben, können sie nicht ihr Bestes tun, um Sanktionen umzusetzen.

Warum hat die Schweiz Ihrer Meinung nach nur langsam die Transparenz über die letztendlichen Eigentümer:innen von Unternehmen erhöht?

Die Schweiz wurde schon vor langer Zeit, noch vor den Panama Papers, von der Financial Action Task Force (FATF) zur Bekämpfung der Geldwäscherei evaluiert. In der Zeit seit 2016 hat die FATF höhere Standards eingeführt. Dies hat zur Folge, dass ein Land, das letztes Jahr evaluiert wurde, einen höheren Standard als die Schweiz hat.

Die Schweiz wird auf eine harte Probe gestellt, wenn sie in den kommenden Jahren erneut evaluiert wird. Was tut die Schweiz bis dahin, um sicherzustellen, dass sie ihre Standards im Einklang mit den Erwartungen der FATF erhöht hat?

Sie wird sich dann nicht mehr hinstellen und sagen können, wir haben in unserem Bericht vor zehn Jahren ganz gut abgeschnitten. Ich denke, die Schweiz sollte eher nach vorne als nach hinten schauen.

Es ist aber auch wichtig zu wissen, dass der FATF-Standard ein Mindeststandard ist. Wenn Sie zu den Ländern gehören, die sich mit der Erfüllung von Mindeststandards zufriedengeben, dann setzen Sie sich dem Verdacht aus, die Umgehung von Sanktionen zu erleichtern.

Der Einmarsch Russlands in der Ukraine führte zu einer Reihe von Sanktionen der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten und der G7-Staaten gegen russische Personen und Unternehmen. Die Schweiz hat sich an der EU orientiert und im März ihr zehntes Sanktionspaket umgesetzt.

Das hat die internationale Gemeinschaft – darunter Nichtregierungsorganisationen und seit kurzem auch die G7 – nicht davon abgehalten, die Schweiz dafür zu kritisieren, dass sie nicht genug tut. Sie bemängeln vor allem den geringen Umfang der in der Schweiz eingefrorenen russischen Vermögenswerte und argumentieren, dass sie die Sanktionen besser durchsetzen könnte.

In dieser Serie untersuchen wir, welche Schritte die Schweiz unternommen hat, um den internationalen Standards zu entsprechen, und wo sie hinterherhinkt. Wir hinterfragen die Gründe für Sanktionen und deren Folgen für in der Schweiz ansässige Rohstoffhändler. Ausserdem analysieren wir russische Vermögenswerte in der Schweiz und erfahren, wie einige Oligarchen die Sanktionen umgehen.

Glauben Sie, dass der Ukraine-Krieg ein Wendepunkt für die Schweiz ist, um eine neue Mentalität in Sachen Transparenz zu entwickeln?

Ehrlich gesagt, muss das so sein. Wie bereits erwähnt, leidet die Schweiz immer noch unter dem Ruf der Geheimhaltung – ob zu Recht oder zu Unrecht.

Indem sie sich aktiv an den Sanktionen beteiligt und somit demonstriert, dass sie Vermögenswerte einfriert und ihr nationales Fachwissen (z.B. im Rohstoffhandel und im Private Banking) nutzt, um Druck auf die russische Wirtschaft auszuüben, wird sie dazu beitragen, die verbleibenden Verdachtsmomente bezüglich ihrer finanziellen Integrität zu zerstreuen.

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Die Länder scheinen sich bei den Sanktionen relativ einig zu sein, aber ist das auch bei der Umsetzung der Fall?

Die Sanktionen werden in Brüssel beschlossen, aber das ist nur der Rahmen. Jedes Land hat sein eigenes Gesetz zur Umsetzung von Sanktionen. Das führt dazu, dass es unterschiedliche Definitionen von Dingen wie Eigentum und Kontrolle gibt.

Die meisten Länder sagen, dass eine Person, die 50% plus eine Aktie an einem Unternehmen besitzt, mit Sanktionen belegt werden sollte. Aber die Auslegung der Kontrolle (wenn eine Person ein Unternehmen kontrolliert, aber nicht besitzt) ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. Dieser Mangel an Harmonisierung führt zu Lücken, die ausgenutzt werden können.

Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass Banken lange Zeit sehr empfindlich auf die Umsetzung von Sanktionen reagiert haben, weil sie in Schwierigkeiten mit den US-Behörden geraten sind, während europäische Unternehmen nur sehr wenig Erfahrung mit der Umsetzung von Sanktionen haben.

Rohstoffunternehmen mussten sich in der Vergangenheit ein wenig mit Sanktionen auseinandersetzen, aber nicht in demselben Ausmass wie im Falle Russlands.

Und was denken Sie, wie die Unternehmen bei der Umsetzung der Sanktionen vorgehen?

Wenn Sie mit Anwält:innen oder Berater:innen sprechen, werden sie Ihnen sagen, dass sie Kund:innen haben, die immer noch versuchen, ihre Geschäfte fortzuführen, wo sie nicht von Sanktionen betroffen sind.

Viele werden argumentieren, dass Unternehmen “das Richtige” tun sollten, unabhängig davon, ob Sanktionen verhängt werden oder nicht. Aber welches Geschäftsmodell ist denn das richtige?

Ich habe ein gewisses Verständnis für Unternehmen, die sagen: “Es mag Ihnen vielleicht nicht gefallen, was wir aus ethischer Sicht oder im Hinblick auf unseren guten Ruf tun, aber wir halten uns an das Gesetz. Unsere Anwält:innen haben das, was wir tun, abgesegnet. Wenn Sie das Gesetz ändern, werden wir unser Verhalten ändern.”

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Was halten Sie von den Zielen, politische Entscheidungsträger:innen mit Sanktionen verfolgen? 

Was ich die politischen Entscheidungsträger:innen gerne frage, ist: Was ist Ihre Theorie der Veränderung, wenn es um die Umsetzung von Sanktionen gegen Russland geht? Und welche Schritte müssen Sie dann unternehmen, um diese Veränderung herbeizuführen?

Am einfachsten wäre es vielleicht zu sagen, dass der gesamte Handel mit Russland oder mit Zwischenländern, die an Russland weiterverkaufen, auf Null reduziert werden sollte. Und dann sollten wir uns darüber unterhalten, ob wir bestimmte Ausnahmen für Dinge wie Medikamente zulassen.

Wie sollte Ihrer Meinung die Theorie des Wandels aussehen?

Ich würde sagen, dass die Verbündeten der Ukraine Massnahmen ergreifen müssen, die den Kreml daran hindern, sein Militär zu finanzieren und auszustatten. Wenn das unser Ziel ist, müssen wir sicherstellen, dass die Sanktionen gegen Dinge wie Hightech-Elektronik so wasserdicht wie möglich sind.

Wir wissen aber auch, dass Russland über Handlungsspielräume verfügt und sich die russische Wirtschaft von einer zivilen Wirtschaft zu einer militärischen, auf den Krieg ausgerichteten Wirtschaft wandelt. Fabriken, die früher Busse produzierten, stellen jetzt Panzer her.

Wir müssen daher darüber nachdenken, wie weitreichend ein Embargo sein sollte. Dazu gehört auch die Frage, ob wir weiterhin bestimmte Produkte an Drittländer verkaufen sollten, die wahrscheinlich an Russland weiterverkauft werden, was eindeutig der Fall ist.

Aber wie kann man das durchsetzen?

Es gibt Unternehmen in der Schweiz, im Vereinigten Königreich, in Deutschland und Frankreich, die seit letztem Jahr einen Anstieg ihrer Verkäufe in bündnisfreie Drittländer verzeichnen.

Diese Unternehmen sollten sich fragen, warum diese Verkäufe sprunghaft angestiegen sind und ob sie möglicherweise mit der Umgehung russischer Sanktionen zusammenhängen – es ist naiv zu glauben, dass dies nicht der Fall ist.

Wir müssen den privaten Sektor dazu bringen, sich mehr Gedanken darüber zu machen, was er tut, als nur auf die Gesetze zu schauen.

Die Schweiz hat viel Kritik einstecken müssen, weil sie der REPO-Task Force (Russian Elites, Proxies, and Oligarchs) der G7 nicht beigetreten ist, die russische Vermögenswerte einfrieren und beschlagnahmen soll. Glauben Sie, dass sie sich anschliessen sollte?

Wenn sie nicht mitmacht, schadet sie ihrem Ruf noch mehr. Warum sollte die Schweiz nicht mitmachen? Skeptiker:innen werden denken, das Land habe etwas zu verbergen.

Was sollte die Schweiz noch tun, um die Welt davon zu überzeugen, dass sie die Sanktionen wirksam umsetzt?

Wenn ich jetzt die Schweiz wäre, würde ich einen Bereich finden, in dem die Schweiz gut bekannt ist, und herausfinden, wie ich in diesem Bereich eine globale Führungsrolle bei der Umsetzung von Sanktionen gegen Russland übernehmen kann.

Wenn es sich um den Rohstoffhandel handelt, würde ich mir ein Bein ausreissen, um mit Unternehmen wie Glencore und Trafigura zusammenzuarbeiten, um ihnen zu helfen, die Sanktionen zu verstehen. Ich würde sie beraten, welche Änderungen für sie hilfreich wären, um unsere Theorie des Wandels zu erreichen.

Daraus würde ich eine Tugend machen. Ich würde eine Konferenz über die Umsetzung der Russland-Sanktionen im Rohstoffhandel veranstalten, die von Glencore und Trafigura gesponsert wird, und verbündete Partner zu einem Brainstorming einladen, wie wir dieses spezielle Element des Sanktionsnetzes verschärfen können.

Tut die Schweiz alles, was in ihrer Macht steht, um die Sanktionen umzusetzen?

Ich würde es mir wünschen, aber wichtige Verbündete sehen das offenbar anders. Die Schweiz sollte die Bedenken, die etwa von der G7 geäussert werden, ernst nehmen. Für viele Beobachter:innen wird die Schweiz so lange schuldig bleiben, bis sie ihre Unschuld kategorisch beweist.

Trotz internationaler Kritik: Die Schweiz setze die Sanktionen gegen Russland vorbildlich um, sagt Erwin Bollinger vom Staatssekretariat für Wirtschaft Seco:

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Editiert von Virginie Mangin; Übertragung aus dem Englischen: Janine Gloor

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