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Sanktionen als Problem für humanitäre Hilfe

Illustration von Sanktionen und humanitärer Hilfe nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine
Helen James / SWI swissinfo.ch

In den letzten Jahren wurden vermehrt Sanktionen gegen Staaten verhängt, was die Besorgnis über das daraus resultierende menschliche Leid verstärkt hat. Eine aktuelle UNO-Sicherheitsrats-Resolution erleichtert Hilfsorganisationen nun den ungehinderten Einsatz in sanktionierten Ländern – ein bedeutender politischer Wandel. Trotz der langsamen Fortschritte und der hochpolitischen Natur des Themas geht die Schweiz in Syrien mit gutem Beispiel voran.

Millionen Menschen auf der ganzen Welt werden unschuldig zu Opfern von Sanktionen, die gegen ihre autokratischen Regime verhängt werden.

Das Problem drängt, weshalb der UNO-Sicherheitsrat im Dezember eine Resolution verabschiedete, die humanitäre Aktivitäten dauerhaft von diesen Sanktionen ausnimmt. Hilfsorganisationen begrüssten die neuen Regeln und erklärten, sie würden helfen, Leben zu rettenExterner Link.

“Noch vor wenigen Jahren hätten wir eine solche Resolution nicht für möglich gehalten”, sagt Bérénice Van Den Driessche, leitende Beraterin für Politik und Fürsprache beim Norwegischen Flüchtlingsrat, einer weltweit tätigen humanitären Organisation. “Es war ein bahnbrechender Moment”, sagt sie gegenüber SWI swissinfo.ch.

Doch die Umsetzung der Resolution 2664 hat bisher nur begrenzt dazu beigetragen, ein Problem zu lösen, das normalerweise unter dem Radar bleibt: die Finanzierung und Verteilung der Hilfe im betroffenen Land.

Wenn ein Land mit Sanktionen belegt wird, verlassen es die Banken fluchtartig. Das erschwert es den humanitären Organisationen, den Bedürftigen zu helfenExterner Link. Die Resolution führt eine so genannte “Ausnahmeregelung”Externer Link ein.

Diese erlaubt es den Vereinten Nationen und verwandten Organisationen dauerhaft, Gelder und Güter in Länder zu senden, gegen die Sanktionen verhängt wurden, wenn dies als Reaktion auf eine Notsituation oder zur Unterstützung grundlegender menschlicher Bedürfnisse geschieht.

Karte mit einer Übersicht Über verhängte Sanktionen
Kai Reusser / swissinfo.ch

Der Text ist kein Freibrief. Der Sicherheitsrat fordert humanitäre Organisationen explizit auf, “angemessene Anstrengungen” zu unternehmen, um sanktionierte Personen oder Organisationen nicht zu unterstützen.

Die Ausnahmeregelung gilt nur für Sanktionen, die von der UNO verhängt wurden, und schliesst solche einzelner Staaten oder der EU aus.

“Aufgrund dieser spezifischen Einschränkungen ist ein Durchbruch beim humanitären Zugang im ersten Jahr der Umsetzung der Resolution unwahrscheinlich”, sagt Van Den Driessche.

“In Kraft bleiben andere Sanktionen und Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, die nicht unbedingt Ausnahmen für humanitäre Zwecke vorsehen und unsere Operationen weiterhin behindern und uns haftbar machen.”

Die Vereinigten Staaten, welche die Resolution gemeinsam mit Irland eingebracht hatten, waren das erste Land, das die neuen Regeln in nationales Recht umgesetzt hat.

Das US-Finanzministerium bezeichnete dies als “historischen Schritt”Externer Link und erteilte im Dezember allgemeine Lizenzen für Hilfsorganisationen, die in sanktionierten Ländern tätig sind.

Der Einmarsch Russlands in der Ukraine führte zu einer Reihe von Sanktionen der Europäischen Union, der Vereinigten Staaten und der G7-Staaten gegen russische Personen und Unternehmen. Die Schweiz hat sich an der EU orientiert und im März ihr zehntes Sanktionspaket umgesetzt.

Das hat die internationale Gemeinschaft – darunter Nichtregierungsorganisationen und seit kurzem auch die G7 – nicht davon abgehalten, die Schweiz dafür zu kritisieren, dass sie nicht genug tut. Sie bemängeln vor allem den geringen Umfang der in der Schweiz eingefrorenen russischen Vermögenswerte und argumentieren, dass sie die Sanktionen besser durchsetzen könnte.

In dieser Serie untersuchen wir, welche Schritte die Schweiz unternommen hat, um den internationalen Standards zu entsprechen, und wo sie hinterherhinkt. Wir hinterfragen die Gründe für Sanktionen und deren Folgen für in der Schweiz ansässige Rohstoffhändler. Ausserdem analysieren wir russische Vermögenswerte in der Schweiz und erfahren, wie einige Oligarchen die Sanktionen umgehen.

Die Schweiz setzte die Resolution rasch um. Im April änderte der Bundesrat 13 Verordnungen zum UNO-SanktionsregimeExterner Link und lockerte die Regeln für humanitäre Transfers in Länder wie Afghanistan, Iran, Libyen, Jemen, Somalia, Südsudan und Nordkorea. Die Änderungen traten im Juni in Kraft.

“Die Schweiz unterstreicht die Bedeutung der Bemühungen des Sicherheitsrats, sicherzustellen, dass humanitäre Hilfe möglich bleibt und nicht durch Sanktionen behindert wird”, erklärte eine Schweizer Delegierte im UNO-Sicherheitsrat im Juli mit Bezug auf die Resolution 2664.

Die Schweizer Erklärung verurteilte den jüngsten Raketentest Nordkoreas und fügte hinzu, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht vergessen werden dürften und deren Menschenrechte respektiert werden müssten.

Humanitärer Zugang in Syrien bleibt schwierig

Trotz der lobenswerten Ziele der Resolution bleibt die Realität des Zugangs für humanitäre Hilfe komplex und schwierig. Das zeigte exemplarisch das Erdbeben im Süden der Türkei und im benachbarten Syrien im Februar 2023. Zehntausende Menschen starben, Gebäude stürzten ein, Schulen und Krankenhäuser wurden zerstört.

Die Katastrophe ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als Millionen Syrerinnen und Syrer, die vor dem jahrzehntelangen Bürgerkrieg und der Verfolgung durch das Regime von Präsident Baschar al-Assad geflohen waren, bereits im Nordwesten des Landes nahe der Grenze zur Türkei in Camps lebten und auf humanitäre Hilfe angewiesen waren.

Die Hilfe für das Gebiet, das verschiedene kurdische, von der Türkei unterstützte sowie islamistische Gruppen kontrollieren, wird entweder “grenzüberschreitend” aus der Türkei oder “grenzüberschreitend” aus den von der Regierung kontrollierten Gebieten geliefert.

Nach dem Erdbeben verzögerte sich die grenzüberschreitende Hilfe, da der wichtigste Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien tagelang geschlossen war.

Nach der Wiedereröffnung für UNO-Nothilfekonvois blieb der Zugang politisch umstritten. Im Juli legte Russland sein Veto gegen einen Versuch ein, den humanitären Kanal längerfristig offen zu halten.

Zurzeit wird die Hilfeleistung über Grenzen hinweg durch Sanktionen behindert. Die Resolution 2664 hat den Zugang in diesem Fall nicht erleichtert.

Das Assad-Regime steht nicht unter den UNO-Sanktionen, sondern unter einseitig ergriffenen Sanktionen westlicher Staaten. Dadurch wird den NGOs erschwert, dringend benötigte Güter und Ausrüstung einzuführen.

Zu kurze Frist für Ausnahmeregelung

Die USA und die EU gehörten zu denjenigen, die nach dem Erdbeben rasch sechsmonatige Ausnahmen von ihren unilateralen Sanktionsprogrammen gewährtenExterner Link, um Hilfsorganisationen in Syrien bei der Versorgung der Erdbebenregion zu unterstützen.

Laut einer Umfrage unter internationalen NGOs mit Sitz in Damaskus im Mai haben sich diese Massnahmen als wirksam erwiesen.

Die NGOs müssen in diesem Rahmen keine Genehmigung mehr einholen, um notwendige Dienste wie Telefonnetzwerke zu nutzen, was vorher Monate dauern konnte.

Einige Organisationen können jetzt in US-Dollar und Euro Finanztransaktionen tätigen, was zuvor sehr schwierig war. Mehrere haben neue Projekte begonnen oder arbeiten mit neuen Lieferanten zusammen.

“Wir haben einige kleine Verbesserungen festgestellt”, sagt ein in Syrien tätiger humanitärer Helfer gegenüber SWI swissinfo.ch. “Aber diese Ausnahmen wären hilfreicher gewesen, wenn sie nicht zeitlich begrenzt und zwischen den Sanktionsregimen harmonisiert worden wären.”

Die Studie stellte fest, dass die Begrenzung auf sechs Monate ein erheblicher Nachteil ist. 180 Tage seien “einfach nicht lang genug, um eine signifikante Wirkung zu erzielen”.

Im Juli hat die EU ihre humanitären Ausnahmeregelungen verlängertExterner Link. Diese Massnahme gilt aber nur für weitere sechs Monate. Die den USA nach dem Erdbeben erteilte Ausnahmegenehmigung wurde nicht verlängert und ist im August abgelaufen.

Bisher ist die Schweiz das einzige Land, das unbefristete Ausnahmeregelungen gewährtExterner Link. Dies gelte weithin als sehr positives Beispiel und erleichtere die Arbeit der von der Schweiz finanzierten humanitären Organisationen in Syrien, wie eine Studie des Carter Centers zeigtExterner Link, einer NGO mit Sitz in den USA.

Die ältere, wichtigere Frage

Der Zugang für Hilfsorganisationen ist nur ein Problem, das Sanktionen aufwerfen.

In der Krise in Syrien stellen sich grundsätzlichere humanitäre Fragen: Wie sehr schaden Sanktionen gegen ein despotisches Regime wie das von Assad der Zivilbevölkerung, indem sie den internationalen Handel einschränken? Und erhöhen Sanktionen unbeabsichtigt den Bedarf an humanitärer Hilfe? Auf diese Fragen macht Human Rights Watch (HRW) in einer aktuellen Analyse der SyrienkriseExterner Link aufmerksam.

“Die meisten Syrerinnen und Syrer sind nicht nur wegen des Erdbebens auf Hilfe angewiesen, sondern auch wegen der sich verschärfenden Wirtschaftskrise des Landes”, schreibt HRW.

Die Organisation weist darauf hin, dass die Grundversorgung und die syrische Währung zusammenbrechenExterner Link, 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben und das Land von Stromausfällen heimgesucht wird.

Die Sanktionen tragen zur Krise bei, indem sie Lieferketten unterbrechen, Finanzkrisen auslösen und somit die Inflation in die Höhe treibenExterner Link.

Grafik über die Zunahme von Sanktionen weltweit
Kai Reusser / swissinfo.ch

Während Human Rights Watch klarstellt, dass die Assad-Regierung und ihre Verbündeten die Hauptursache für das Elend in Syrien sind, hält der Bericht festExterner Link, dass zu weit gefasste Sanktionen das Leiden der Zivilbevölkerung verstärken und die humanitäre Krise vertiefen. Die vorsichtige Formulierung des Berichts unterstreicht, wie stark das Thema politisiert ist.

Die ursprüngliche Idee moderner Sanktionen war es, Aggressoren zu bestrafen und Verbündeten zu helfen. In der Zwischenkriegszeit, als sich die Staats- und Regierungschefs der Welt in Genf trafen, um Handelsbeschränkungen als Instrument des Völkerbunds zu entwickeln, wurde das Aushungern der Zivilbevölkerung im Feindesland als eine der Folgen in Kauf genommen.

In seinem Buch “The Economic Weapon: The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War”Externer Link beschreibt Nicholas Mulder, Geschichtsprofessor an der Cornell University, wie feministische und humanitäre Organisationen gegen Hungerblockaden kämpften und wie demokratische Regierungen mit dieser Frage rangen.

“Die Welt hat einige Fortschritte gemacht”, sagt Van Den Driessche vom Norwegischen Flüchtlingsrat und verweist auf die humanitäre Hilfe für Länder, gegen die Sanktionen verhängt wurden, sowie auf die Verabschiedung der Resolution 2664.

“Die Staaten wollen sicherlich Druck ausüben, um das Verhalten einer Regierung zu ändern. Aber sie erkennen zunehmend die Notwendigkeit, die Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen [von Sanktionen] zu schützen.”

Editiert von Nerys Avery, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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