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Freihandelsabkommen mit Indien: “Die Schweiz hat einen hervorragenden Job gemacht”

Indische Hochzeit im Engadin
2019 fand in St. Moritz eine Hochzeit von zwei Sprösslingen aus milliardenschweren indischen Familien statt. Eigens dafür wurde ein kleiner Lunapark aufgebaut. Einheimische blieben aussen vor. Gian Ehrenzeller/Keystone

Die Schweiz als Eingangstor für indische Produkte in Europa? Für den amerikanischen Politwissenschaftler Parag Khanna ist das die Chance im Freihandelsabkommen. Im Interview schätzt er zudem die Entwicklung der weltweiten Migration ein.

Der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna war für das WEF in Davos. SWI swissinfo.ch sprach mit ihm über Migration und das kürzlich verkündete Freihandelsabkommen zwischen Indien und der Schweiz.

SWI swissinfo.ch: In Ihrem letzten Buch “Move – Das Zeitalter der Migration” von 2021 zeichnen Sie das Bild von riesigen globalen Menschenströmen infolge des Klimawandels, Demografie und Konflikten. Als Zielregionen sehen Sie riesige unbewohnte Flächen im Norden wie Kanada, Nordeuropa, Sibirien und Zentralasien. Kann sich die Schweiz, für welche Migration seit über 50 Jahren eines der heisstesten Eisen der Innenpolitik ist, also zurücklehnen?

Parag Khanna: Punkto Zuwanderung ist die Schweiz sehr selbstbewusst, sie hat gegenüber Drittländern die souveräne Kontrolle über ihre Grenzen und ist sehr wählerisch.

Zu den Zugewanderten zählen auch viele Menschen aus Asien, die sich inzwischen gut assimiliert haben und die einen wichtigen Beitrag zur Schweizer Wirtschaft beitragen.

jüngerer Mann, der einen Vortrag hält
Parag Khanna ist indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und Buchautor mit den Spezialgebieten Geopolitik und internationale Beziehungen. Keystone

Angesichts der kumuliert auftretenden Megatrends Klimawandel, Migration, geopolitische Konflikte und Bürgerkriege werden Menschen aus Asien in immer grösserem Ausmass auch nach Europa kommen. Genau wie Menschen aus arabischen und afrikanischen Ländern.

Auch wenn es politisch heikel ist oder ihr vorgeworfen wird, dass sie zu wenig grosszügig und barmherzig handle: Die Schweiz muss natürlich ihre eigene Stabilität sicherstellen. Das tut sie bereits – mit Freihandelsabkommen und engeren kommerziellen Beziehungen mit Staaten, die reich an Talenten sind. Zum Beispiel mit asiatischen Ländern.

Ist Ihre Vision eines bevölkerten Sibiriens nicht etwas abenteuerlich, angesichts auftauender Permafrostböden oder der Abholzung von riesigen Wäldern, welche die Erde als “grüne Lungen” benötigt?

Im Buch habe ich dokumentiert, dass die Bewegung von Menschen aus Asien Richtung Norden bereits eingesetzt hat. Das ist also keine Science Fiction. Klar gibt es Barrieren wie Politik, Landesgrenzen, geografische Entfernung oder Kosten.

Dazu zählen auch die nördlichen Breitengrade. Aber eine wachsende Zahl von Menschen aus Indien, Pakistan und anderen Ländern ist bereits nach Sibirien und Zentralasien ausgewandert, etwa nach Kasachstan oder Usbekistan.

Ich bereise diese Länder seit 30 Jahren, und jedes Mal, wenn ich dort bin, sehe ich nicht nur die Saisonarbeiterinnen und -arbeiter, die im Agrarwesen helfen. Man sieht dort Asiat:innen ohne Ende, die im Baugewerbe, als Englischlehrerinnen, Optiker oder Köchinnen in Kantinen und Hotels arbeiten.

Präsident Putin, der gewiss kein Freund von Ausländer:innen ist, hat bereits 2018 mit Indiens Premier Modi ein Abkommen abgeschlossen, das den regionalen Austausch von Menschen mit bestimmten Fertigkeiten zwischen Russland und Indien ermöglicht.

Es ist also schon Fakt, dass immer mehr Menschen aus Asien in russische Gebiete einreisen. Auch Rumänien und Griechenland haben in jüngster Zeit solche Abkommen mit Indien abgeschlossen. Es geht also um den Ausgleich von Arbeitskräftemangel infolge von demografischen Schieflagen.

Welche Bedeutung hat das Freihandelsabkommen, auf dessen Grundzüge sich die Schweiz und die drei anderen Efta-Länder mit Indien geeinigt haben?

Die Schweiz hat einen hervorragenden Job gemacht, denn das Freihandelsabkommen ist ein wichtiger aussenwirtschaftlicher und diplomatischer Erfolg. Im Unterschied zur EU und Grossbritannien hat die Schweiz gehandelt.

Die EU und Grossbritannien reden zwar mit Indien und sind dorthin gereist. Aber ein Freihandelsabkommen haben sie nicht hingekriegt.

Die Schweiz ist jetzt im Vorsprung, was ich sehr clever finde. Denn sie dürfte für Indien zum Eingangstor werden, um indische Produkte, die qualitativ immer besser werden, in ganz Europa zu vermarkten.

Von diesem Erfolg wird auch die Schweizer Industrie profitieren: Denn die Nachfrage nach ihrer Spitzentechnologie wird steigen, denn Indien wird das nächste China sein.

Dafür aber muss es die Standards der industriellen Produktionsprozesse weiter deutlich verbessern. Das kann Indien über den Import von Spitzentechnologie aus der Schweiz und Deutschland.

Hat dieser Erfolg der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik auch Auswirkungen auf das diplomatische Parkett, wo die Schweiz in diesem Jahr eine Ukraine-Friedenskonferenz organisieren, und dabei auch Indien ins Boot holen will.

Nein. Es dürfte zwar auch Kooperationen in anderen Bereichen geben. Aber was die Friedenskonferenz betrifft, lautet die Antwort ganz klar Nein.

Weshalb so kategorisch?

Indien hat eigene Interessen, die es in seiner Aussenpolitik wahrnehmen will. Es hat seine Beziehungen zu Russland stark vertieft und ist eine enge Kooperation mit Putin eingegangen.

Was die Energiemarktpolitik und die Agenda in Asien betrifft, verfolgt Indien seine eigene Strategie.

Welche weiteren Kooperationen sehen Sie als Möglichkeit? Wir berichteten kürzlich über einen weltrekordverdächtigen Austausch von Schweizer Mittelschüler:innen aus der Stadt Luzern mit Alterskolleg:innen aus Kerala. Das kann ja aufgrund der Distanz von 7500 Kilometern kaum beispielhaft sein.

Der Austausch von Studierenden an Universitäten und technischen Hochschulen ist immer sehr wichtig. Innerhalb Europas ist das Erasmus-Programm ein Riesenerfolg gewesen.

Vergleichen Sie das mit dem Austausch zwischen den USA und China: Da ist die Gesamtzahl der US-Studierenden in China aufgrund der angespannten Beziehungen auf rund 200 gesunken.

Gibt es angesichts des engen Zusammengehens von Indien mit Russland überhaupt eine tragfähige gemeinsame Grundlage zwischen Indien und der Schweiz? Russland bekämpft ja Menschenrechte, individuelle Freiheiten und Demokratie offen?

Ja, doch. Der gemeinsame Boden besteht zwar primär auf funktioneller Ebene, also dem angestrebten verstärkten Technologieaustausch.

Aber wenn indische Studierende und Lehr- und Fachpersonen aus den technischen Bereichen in die Schweiz kommen, um hier zu lernen, führt das wie erwähnt zu stärkeren persönlichen und familiären Verflechtungen. Diese wirken sich wiederum positiv auf das Gemeinwohl aus.

So kann durch Austausch ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Gesellschaften entstehen, wie es in sehr ausgeprägtem Ausmass zwischen Indien und den USA entstanden ist. Ich selbst bin Amerikaner mit indischen Wurzeln und einer Familie in Indien.

Editiert von Benjamin von Wyl

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