Die reiche Schweiz – ein Mieterland
Die Mehrheit wohnt in der Schweiz in Mietwohnungen – unbestreitbar ein Sonderfall in Europa. Das prägt den Alltag, die Umwelt, die Politik und natürlich das Mietrecht. Aber keineswegs immer so, wie man es erwarten würde.
Wer neu oder wieder in die Schweiz übersiedelt, zieht sehr wahrscheinlich auch zur Miete in ein Mehrfamilienhaus. Denn die Schweiz ist das Land der Mieter und Mieterinnen schlechthin: Sie sind mit einem Anteil von 58 Prozent an der Wohnbevölkerung hier klar in der Mehrheit. Ein so hoher Mietanteil ist unüblich.
Überall sonst in Europa machen die Hausbesitzer und -besitzerinnen die Mehrheit aus, am knappsten noch, mit etwas über 50 Prozent, in Deutschland. In Europa sind Hauseigentümerquoten von zwei Dritteln und mehr die Regel. Die Schweiz ist in dieser Sache der unbestrittene Sonderfall. Doch auch wenn man sich hierzulande meist gerne als Sonderfall sieht: Auf den hohen Mietanteil ist man nicht unbedingt stolz.
Im Gegenteil: Dass hier nur eine Minderheit in den eigenen vier Wänden wohnt, wird in den Medien in der Regel mit der stereotypen Schlagzeile beklagt: «Der Traum vom Eigenheim ist für die meisten in der Schweiz geplatzt», wie etwa das Pendlermagazin «20 Minuten» einen Artikel zum Thema steigende Hauspreise betitelte. Und der Traum, das ist nicht etwa bloss eine Eigentumswohnung, sondern «ein Haus mit Garten».
Doch ist es wirklich ein Nachteil, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer in Mietwohnungen – meist in Mehrfamilienhäusern – lebt? Und was für Folgen hat dies für Alltag, Wirtschaft, Politik und Umwelt? Die «Schweizer Revue» hat mit Experten und Interessenvertreterinnen gesprochen und Studien konsultiert. Dabei wird klar: Die Auswirkungen sind vielfältig – und nicht immer so, wie man es erwarten würde. Ein Rundgang quer durch das Mieterland Schweiz in neun Thesen.
These Nr. 1: Leben viele in Mietwohnungen, bremst dies die Zersiedelung
Keinen Nachteil im hohen Mietanteil sieht Benedikt Loderer, Architekt, «Stadtwanderer» und grüner Bieler Lokalpolitiker. «Im Mietwohnungswesen wird dichter gebaut, das wirkt gegen die Zersiedelung des Landes», sagt er. Loderer ist ein unerbittlicher Kritiker der «Hüsli-Pest», wie er die grossflächige Überbauung des Schweizer Mittellandes mit Einfamilienhäusern nennt. «Wenn man die achteinhalb Millionen Menschen, die in der Schweiz wohnen, in Einfamilienhäusern unterbringen wollte, wäre das Land komplett zugepflastert.» Der Traum vom eigenen Häuschen im Grünen beruht für Loderer ohnehin auf einer Illusion: «Die Eigentümer besitzen die Häuser ja nur nominell, effektiv gehören sie den Banken, die dafür die Kredite geben.»
These Nr. 2: Wer in einer Mietwohnung wohnt, kann wenig fürs Klima tun
Wie eine Wohnung beheizt wird und wie gut sie wärmegedämmt ist, das entscheidet alleine deren Eigentümerschaft. Doch auch Behördenappelle, angesichts von Ukraine-Krieg und Energieteuerung weniger stark zu heizen, stossen auf ein Hindernis: Gerade in alten Mehrfamilienhäusern wird der Heizverbrauch oft nicht individuell gemessen und verrechnet. Die Heizkosten werden den Mietparteien zu gleichen Teilen in Rechnung gestellt. Somit zahlt die sparsame Mieterin für ihre verschwenderischen Wohnungsnachbarn mit.
Ob allerdings eine höhere Eigentumsquote die Energiewende vereinfachen würde, ist eine offene Frage. Entschieden wird darüber letztlich in Volksabstimmungen. Und da bekämpft die Lobby der Hauseigentümer meist schärfere Vorschriften, während jene der Mieterschaft sie eher unterstützt.
These Nr. 3: Der hohe Mietanteil ist Ausdruck von Wohlstand
Je reicher ein Land ist, desto mehr Menschen können sich Wohneigentum leisten – so würde man meinen. Richtig ist aber gerade das Gegenteil: Je ärmer ein Land, desto mehr Hausbesitzende weist es auf. Die Statistiken sprechen hier eine klare Sprache. Mit über 96 Prozent ist die Wohneigentumsquote in Albanien und Rumänien europaweit am höchsten, aber auch in Portugal, Spanien oder Griechenland ist sie mit rund drei Vierteln sehr hoch. Die Erkenntnis: Je prekärer die Lebensverhältnisse sind, desto wichtiger ist Wohneigentum zur persönlichen Absicherung.
Innerhalb der Schweiz ist dasselbe Gefälle zu beobachten: In den ländlichen Kantonen Appenzell-Innerrhoden und Wallis ist die Eigentümerquote mit 58 respektive 54 Prozent am höchsten. In den wirtschaftsstarken Stadtkantonen Basel-Stadt und Genf beträgt sie dagegen nur gerade 15 respektive 18 Prozent. Hier, wie auch generell in den grossen Städten und wirtschaftsstarken Kantonen wie Zürich und Zug, lebt man meist in Mietwohnungen.
These Nr. 4: Das Mieten «funktioniert» gut und ist oft günstiger als Besitzen
Eine überraschende Erklärung dafür, warum in der wohlhabenden Schweiz der Mietanteil so hoch ist, liefert Politgeograf Michael Hermann. «Es existiert ein Grundvertrauen, dass das Wohnen auch dann funktioniert, wenn man die Wohnung nicht selber besitzt.» Generell hätten in der Schweiz, so Hermann, «gemeinschaftliche oder genossenschaftliche Formen des Wirtschaftens eine stärkere Tradition als andernorts». Das zeige sich etwa bei den als Genossenschaften organisierten Detailhandelsketten Migros und Coop. Aber auch – sehr schweizerisch – in den häufig gemeinsam genutzten Waschküchen in Mehrfamilienhäusern.
Zudem ist Mieten günstiger als Besitzen – zumindest seit Kurzem wieder, wie Ökonomen der Bank Credit Suisse in einer kürzlich publizierten Studie festhalten: «Die Gesamtkosten für Wohneigentum übersteigen die Mietkosten einer vergleichbaren Wohnung.» Das ist allerdings erst jetzt wieder so, wegen dem Wiederanstieg der Zinsen für Hauskredite. Zuvor – in der seit 2008 anhaltenden Tiefzinsphase – galt das Gegenteil. Die Entwicklung lässt sich somit auch als Rückkehr zu einer gewissen Normalität interpretieren. Solche Studien sagen allerdings wenig über den Einzelfall aus. Zudem gilt: Wohnen ist, wie das Leben in der Schweiz, im internationalen Vergleich generell sehr teuer. Auch die Mietkosten belasten das Haushaltsbudget, speziell für die ärmere Bevölkerung, stark.
These Nr. 5: Das Mieterleben ist abwechslungsreich – und manchmal stressig
Die Bevölkerung in der Schweiz zeigt sich in Bezug aufs Wohnen sehr mobil: Jedes Jahr zieht, statistisch gesehen, jeder und jede Zehnte um. Dabei ist der Ortswechsel offensichtlich weniger bedeutend als der Wechsel der Wohnung an sich: In der Schweiz betrug 2020 die durchschnittliche Umzugsdistanz nur 12,5 Kilometer. Bei fast drei Vierteln der Umzüge änderte aber die Anzahl Zimmer in der neuen Wohnung. Und zwar in beide Richtungen: Mal wird in eine grössere, mal in eine kleinere Wohnung gezügelt.
Offensichtlich passen viele Menschen die Wohnungsgrösse ihrer sich verändernden privaten Lebenssituation an. Dass mehr als doppelt so häufig umzieht, wer in Mehrfamilienhäusern wohnt, als jene, die in Einfamilienhäusern zuhause sind, überrascht nicht.
Der Mieter oder die Mieterin wohnt also meist «abwechslungsreich». Dass man im mittleren Alter in einem Dutzend oder mehr Wohnungen gelebt hat, ist keine Seltenheit. Doch die Flexibilität hat eine Schattenseite: In den meisten Städten gleicht die Wohnungssuche fast einem Vollzeitjob – und gerade die hier sehr raren guten und günstigen Wohnungen werden meist unter der Hand vergeben. Wer weder gesichertes Einkommen noch einen breiten Freundeskreis hat, muss abgelegener oder an unattraktiven Standorten, etwa an einer lärmigen Durchgangsstrasse, wohnen.
These Nr. 6: Politisch betrachtet müsste der Mieterverband eine Grossmacht sein
In der direkten Demokratie setzt sich die Mehrheit der Mietenden an der Urne mühelos durch, würde man meinen. Ein Irrtum. So verwarf das Schweizer Volk am 9. Februar 2020 die Volksinitiative des Schweizerischen Mieterinnen- und Mieterverbands (MV) für «mehr bezahlbare Wohnungen» mit 57 Prozent Nein-Stimmen klar. Die Initiative forderte, dass mindestens zehn Prozent der Neubauten «bezahlbar», das heisst gemeinnützig oder genossenschaftlich, sind.
Die Abstimmungsschlappe ist kein Einzelfall: Zumindest auf nationaler Ebene hat der MV noch nie eine Volksinitiative durchgebracht. Ist die Schweiz ein Volk von Mieterinnen und Mietern, das vom Wohneigentum träumt und darum entsprechend abstimmt? Für den Hauseigentümerverband (HEV) ist dies unbestreitbar so. Auf Anfrage verweist man auf eine Umfrage bei Wohnungssuchenden, wonach vor allem Personen im mittleren Lebensalter an Wohneigentum interessiert sind, «weil sie ein langfristiges Zuhause wünschen».
Doch auch die MV-Generalsekretärin, die grüne Nationalrätin Natalie Imboden, konstatiert: «Es gibt einen Traum vom Eigenheim, weil man dann nicht mehr riskiert, dass die Wohnung gekündigt wird.» Der Eindruck, dass deswegen der MV gegenüber dem HEV von vornherein auf verlorenem Posten stünde, wäre aber falsch. Denn auch der HEV ist bisher mit seinen Volksinitiativen gescheitert. Beide Organisationen sind aber hochgradig referendumsfähig, haben also sehr gute Chancen, ihnen missliebige Vorlagen an der Urne zu Fall zu bringen. Kurz: Ihre Blockademacht ist gross, die Gestaltungskraft gering. Zwischen ihnen besteht ein zähes Patt.
These Nr. 7: Die Schweizer Mieterwelt ist stark zweigeteilt
Die Miete ist in der Schweiz in vielen Belangen bis ins kleinste Detail dicht geregelt, etwa wenn es darum geht, bis zu welcher Temperatur eine Wohnung geheizt werden muss (20 Grad) oder bis zu welchem Betrag Mieterinnen und Mieter für Reparaturen selbst aufkommen müssen (bis 150 Franken). Und es gilt das Prinzip der sogenannten Kostenmiete: Mietzinserhöhungen müssen mit gestiegenen Kosten belegt werden. Doch in der Realität spielt nicht nur das Mietrecht, sondern auch der Markt eine grosse Rolle, insbesondere bei Neuvermietungen.
Sehr grob vereinfacht lässt sich folgendes Fazit ziehen: In bestehenden Mietverhältnissen ist der Mieterschutz eher gut ausgebaut. So existiert zwar kein Kündigungsschutz, aber bei einer Kündigung können Mietende mit guten rechtlichen Chancen eine zeitliche Erstreckung fordern, manchmal über mehrere Jahre. Bei Neuvermietungen hingegen hat die Eigentümerschaft einen recht grossen Spielraum. Dies führt zu einer Zweiteilung der Mieterwelt: Auf dem Wohnungsmarkt sind die Mietpreise markant höher als in bestehenden Mietverhältnissen. Wer lange in derselben Wohnung bleibt, zahlt weniger als jemand, der neu eine Wohnung mietet.
These Nr. 8: Mieterinnen und Mieter scheuen den Konflikt mit ihrem Vermieter
Konkret dreht sich der Streit in der Schweiz um eine riesige Summe: 78 Milliarden Franken hätten die Miethaushalte in den letzten 15 Jahren zu viel an Miete bezahlt, hält eine Studie im Auftrag des MV fest. Worum es geht: Die Mieten sind rechtlich verknüpft mit den Zinsen für Hauskredite, die seit 2008 gesunken sind – doch die Mieten stiegen weiter an. Für den HEV ist dies, so seine scharfe Replik, ein «Ammenmärchen», so seien gestiegene Betriebskosten und Investitionen nicht berücksichtigt – was der MV bestreitet.
Unbestreitbar ist: Viele Mietende haben darauf verzichtet, tiefere Mieten einzufordern, obwohl die Rechtslage dafür günstig ist. Warum? Laut einer Umfrage im Auftrag des MV befürchten viele Konflikte oder ein schlechteres Verhältnis zur Vermieterschaft. «Das Verhältnis ist nicht so schlecht, wie der Mieterverband es darstellt», findet dagegen Markus Meier vom HEV. Er verweist auf eine Umfrage im Auftrag des Bundes, wonach 63 Prozent der Bevölkerung «eher zufrieden» oder «sehr zufrieden» mit dem aktuellen Mietrecht sind. Mit den nun wieder steigenden Zinsen für Hauskredite wird das Spiel – mit umgekehrten Vorzeichen – neu beginnen. Schon bald werden die Eigentümerinnen und Eigentümer gestützt auf die Zinsentwicklung höhere Mieten fordern können. Man darf gespannt sein, ob sich die Vermieterseite im Interesse eines guten Einvernehmens ebenfalls stark zurückhalten wird.
These Nr. 9: Die Gretchenfrage lautet: «Wie hast du es mit dem Mieterschutz?»
Für den wirtschaftsliberalen Thinktank Avenir Suisse ist das Schweizer Mietrecht ein guter Kompromiss: «Der hiesige Mietwohnungsmarkt ist vergleichsweise massvoll reguliert. Man findet deshalb Mietwohnungen in guter Qualität.» Darin sieht Avenir Suisse den Hauptgrund für den hohen Mietanteil in der Schweiz. In anderen Ländern seien die Mietwohnungen mit «überzogenen Regulierungen aus dem Markt gedrückt» worden.
Anders sieht dies Natalie Imboden vom MV: «In den urbanen Gebieten, wo die meisten Menschen wohnen, funktioniert der Mietmarkt nicht.» Hier brauche es mehr Schutz, «weil die Eigentümerschaft sonst ohne entsprechende Leistung überhöhte Einnahmen erzielt». Dem widerspricht der HEV-Direktor, der Baselbieter SVP-Landrat Markus Meier: «Auch unsere Mitglieder leiden darunter, dass in den Städten zu wenig Wohneigentum gebaut werden kann.» Ein «massloser Mieterschutz, wie ihn der MV fordert», verknappe das Angebot zusätzlich.
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