Insekten essen – was für ein Aufwand!
Die Suche unserer Reporterin Sara Ibrahim nach den Proteinen der Zukunft geht weiter. Dieses Mal hat sie es mit Insekten versucht. In Afrika und Asien gelten diese als vollwertige, nachhaltige und billige Eiweissquelle. In der Schweiz aber haben sie einen schweren Stand, obwohl sie als erstes Land in Europa solche für den menschlichen Verzehr zugelassen hat.
Wer sich wie ich auf eine pflanzliche Ernährung umstellt, wird anfangs davon besessen sein, genügend Eiweiss zu sich zu nehmen. Ich war es und bin es manchmal immer noch. Es wird angenommen, dass Proteine zusammen mit der Glukose in Kohlenhydraten dazu beigetragen haben, die Entwicklung des menschlichen Gehirns zu beschleunigen und unsere Spezies zur intelligentesten auf der Erde zu machen.
Proteine sind daher für eine gesunde Ernährung unverzichtbar: Unser Körper verwendet die Aminosäuren, aus denen sie bestehen, zum Aufbau und zur Reparatur von Muskeln und Knochen. Aber nicht nur.
In Europa sind die Eiweissquellen so zahlreich, dass man fast die Qual der Wahl hat. Der übermässige Verzehr von Fleisch und Milchprodukten ist jedoch – wie ich in früheren Folgen dieser Serie erläutert habe – ein ziemliches Problem für die Umwelt. Er ist die drittgrösste Ursache für Treibhausgas-Emissionen.
Andererseits ist Eiweiss anderswo, etwa auf dem afrikanischen Kontinent, für viele Menschen nicht leicht zugänglich oder schlicht unerschwinglich. Aus diesem Grund ist die Suche nach nachhaltigen, aber dennoch natürlichen und preiswerten Eiweissquellen ungebrochen.
Ich war sehr beeindruckt von der Geschichte einer Kleinunternehmerin aus SimbabweExterner Link, Esnath Divasoni, welche die Unterernährung in ihrem Dorf mit einer Farm für essbare Insekten bekämpft. Die von Divasoni, einer Absolventin der Agrarwissenschaften, gezüchteten Grillen liefern hochwertiges Eiweiss für ihre Gemeinschaft, so dass andere Frauen in der Region ihrem Beispiel gefolgt sind.
Gemäss einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten NationenExterner Link (FAO) könnten Insekten dazu beitragen, den Hunger in der Welt zu beseitigen und die Abhängigkeit der wachsenden Weltbevölkerung von der Massentierhaltung zu verringern.
Obwohl diese Lebensmittel der westlichen Esskultur fremd sind, verzehren weltweit bis zu zwei Milliarden Menschen Insekten. Deshalb glauben viele, dass solche eines Tages auch auf dem alten Kontinent zum täglichen Brot werden könnten. Doch in der Schweiz scheint diese Möglichkeit noch in weiter Ferne zu liegen.
Insekten in einem (warmen) Raum
Insekten sind sehr nahrhaft, haben wenig Fett und enthalten alle neun essenziellen Aminosäuren. Ausserdem enthalten sie Ballaststoffe, die in tierischem Fleisch fehlen, und Vitamin B12, das in pflanzlichen Lebensmitteln nicht natürlich vorkommt.
Die von Diego Moretti in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) durchgeführten StudienExterner Link legen nahe, dass Insekten eine akzeptable Eisenquelle sind, wenn auch weniger optimal als Fleisch.
«In dieser Hinsicht ähneln sie eher pflanzlichen Produkten», sagt Moretti. Aber Insektenproteine sind besser verdaulich als beispielsweise die von Hülsenfrüchten und haben ein vollständigeres Aminosäureprofil, sagt der Experte für menschliche Ernährung an der Schweizerischen Fernfachhochschule (FFHS).
Ästhetisch gesehen sind Insekten nicht hässlicher als Garnelen und Schnecken. Ausserdem stossen sie weniger Treibhausgase und Ammoniak aus als herkömmliche Nutztiere. Und sie sind einfach zu züchten.
Davon konnte ich mich in der Schweiz überzeugen, dem ersten Land in Europa, das die Vermarktung von drei Insektenarten – Grillen, Heuschrecken und Mehlwürmer – für den menschlichen Verzehr erlaubt hat (seit 2017).
«Insekten brauchen sehr wenig Nahrung und auch wenig Platz, Wasser und Energie», sagt Benjamin Steiner, Tierarzt und Mehlwurmzüchter. Zur Zucht reicht ein kleiner Raum mit Plastikkisten (ähnlich wie die Obstkisten im Supermarkt), die mit einem Substrat aus Getreide und Samenpulver gefüllt werden.
Laut einem FAO-Bericht aus dem Jahr 2013Externer Link benötigen Grillen zwölfmal weniger Futter als Rinder, viermal weniger als Schafe und halb so viel wie Schweine und Hühner, um die gleiche Menge an Eiweiss zu produzieren.
2018 eröffnete Steiner seinen Ensectable-Betrieb auf dem Familienhof, einem gepflegten Landhaus unweit des Dorfzentrums von Endingen im Kanton Aargau. Vergessen Sie riesige Ställe und hektarweise Land, gemästete Tiere, ekelerregende Gerüche und Heu überall: Sein Betrieb besteht aus drei kleinen Räumen, in denen sich Insekten paaren und Larven heranwachsen, bevor Steiner und sein einziger Mitarbeiter sie einsammeln.
Steiner scheint eine Art Bewunderung für seine Insekten zu empfinden. Er spricht mit einem gutmütigen Lächeln über ihre Qualitäten. «Mehlwürmer sind wirklich fantastische Tiere. Wenn sie nichts zu essen haben, warten sie einfach auf bessere Zeiten.»
Mehlwürmer brauchen Wärme, um schnell zu wachsen: Die ideale Temperatur, die Steiner bequem aus der Ferne kontrollieren kann, liegt zwischen 25 und 27 Grad Celsius. Wenn es jedoch kälter wird, fressen die Larven weniger, und ihr Stoffwechsel verlangsamt sich.
«Wenn ich in den Urlaub fahren will, brauche ich nur die Temperatur zu senken, und die Larven bleiben ruhig, bis ich zurückkomme.» Ein Luxus, den sich Halterinnen und Halter von Kühen, Schweinen und anderen Nutztieren nicht leisten können.
Der heikelste Moment ist die Ernte, denn die Larven müssen entnommen werden, bevor sie sich in Puppen verwandeln, dem Vorstadium der adulten Phase. Dies geschieht nach etwa zehn Wochen. Danach werden sie durch eine Maschine geleitet, die sie vom mehligen Substrat trennt, in kochendem Wasser abgeschreckt und bei -20 °C eingefroren.
Diese Schritte sind gesetzlich vorgeschrieben, um sicherzustellen, dass alle Larven tot sind und sie keine Krankheitserreger enthalten. «Theoretisch wäre das aber nicht nötig, denn die Bakterien, welche die Insekten in ihrem Darm haben, sind für den Menschen unschädlich», sagt Steiner.
>> So verändert die Technologie unsere Ernährung:
Insekten im Verkauf
Steiner schafft es, pro Monat etwa 200 kg Insekten zu produzieren. Eine bescheidene Menge, die keine Einsparungen zulässt. Sein Hauptkunde, das Schweizer Startup Essento, verkauft eine 170-g-Packung Mehlwurm-Burger für 6,95 Franken – er ist damit teurer als die meisten Fleisch- und Gemüseburger.
Natürlich sind Insekten kein veganes Lebensmittel und treffen auch nicht unbedingt den Geschmack von Fleischfans, zumindest nicht in Europa. Aber Essento-Gründer Christian Bärtsch glaubt, dass sie unsere Zukunft sind.
Der etwas schüchterne Jungunternehmer mit der Clark-Kent-Brille und dem leicht amerikanisch angehauchten Englisch hat einen Hintergrund als Wirtschaftswissenschaftler und eine Leidenschaft für Lebensmittel.
Er erklärt mir mit Überzeugung, dass das Modell einer erfolgreichen Ernährung tierisches Eiweiss nicht völlig ausschliesse und dass Insekten das Bindeglied zwischen pflanzlicher und fleischlicher Ernährung seien.
«Wer bin ich, dass ich behaupten könnte, ein Lebensmittel sollte eher vollständig abgeschafft werden als ein anderes? Es ist erwiesen, dass eine gesunde Ernährung aus verschiedenen Proteinquellen besteht», sagt Bärtsch. «Wir können eine nachhaltige, qualitativ hochwertige Alternative anbieten, die leicht in die Ernährung integriert werden kann.»
Sein Unternehmen mit Sitz in Zürich verkauft seit 2017 Insekten-Snacks, Energieriegel und Burger in schweizerischen, deutschen und österreichischen Geschäften und Restaurants. Bärtsch war auch Mitbegründer von Ensectable, um die gesamte Produktionskette verfolgen zu können.
Insekten im Mund
Die Wahrheit ist jedoch, dass der Gedanke an ein Insekt in unserem Mund für viele von uns Ekel hervorruft. Eine Marktumfrage ergabExterner Link, dass nur etwa neun Prozent der Schweizer Bevölkerung den Verzehr von Insekten befürworten. Aber Bärtsch betont immer wieder: Es ist alles in unseren Köpfen, es ist eine Frage der Mentalität.
«Es ist alles nur in unseren Köpfen», flüstere ich, während ich die im Supermarkt gekaufte Packung mit den Insektensnacks öffne. Ich musste drei verschiedene betrachten, bevor ich den richtigen Snack finden konnte.
Selbst die Verkäuferin war verwirrt, als ich sie nach essbaren Insekten fragte. Sie lachte nervös, als wäre sie das Opfer einer versteckten Kamera geworden. «Insekten?» Als sie merkte, dass ich es ernst meinte, ging sie zu ihrem Vorgesetzten. Der teilte mir mit, dass ich nur eine reduzierte Auswahl an Snacks finden würde. Und dass sie keine Mehlwurm-Burger mehr vorrätig hätten, weil niemand diese kaufen würde.
Wie erwartet, war die Rechnung an der Kasse happig: 17,50 Franken für drei 15g-Packungen Grillen und Heuschrecken in verschiedenen Geschmacksrichtungen und zwei Energieriegel à 35g.
Ich dachte an den FAO-Bericht und die Divasoni-Geschichte in Simbabwe und fragte mich, wie der Hunger in der Welt bei diesen Preisen beseitigt werden soll. Laut Bärtsch werden die Produktionsverfahren für Insekten immer effizienter, die Preise würden sinken. «Es wird einige Zeit dauern, bis wir das Niveau des Fleischsektors erreichen, aber wir machen Fortschritte.»
Nach diesem Exkurs beschliesse ich, Grillen von Essento mit thailändischem Geschmack zu probieren, und beziehe auch meinen Mann in das kulinarische Experiment mit ein. Ihr Aussehen ist gar nicht so schrecklich.
Die Grillen «knirschen» etwas zwischen den Zähnen wie jeder andere gesalzene Snack auch. Der Eigengeschmack des Insekts wurde durch eine lange Zutatenliste von natürlichen Gewürzen und Zucker vollständig überdeckt.
Als ich zu den Alpenkräuter-Heuschrecken übergehe, ändern sich die Zutaten kaum. Aber die Worte «Hinterbeine vor dem Essen entfernen» drehen mir ein wenig den Magen. Ich nehme all meinen Mut zusammen und öffne die Packung, aber die grossen Heuschrecken, die mich mit roten Augen anschauen, lassen mich zusammenzucken.
«Du hast schon Schlimmeres gegessen, keine Vorurteile mehr», überlege ich hastig und erinnere mich an die schlimmsten Lebensmittel, die ich vor meiner Umstellung auf den Veganismus probiert hatte: Kutteln, Zungen, Gehirne verschiedener Tiere und gebratene Frösche.
In meinem Mund spüre ich, wie die Flügel der Heuschrecke zwischen meinen Kiefern flattern. Ich versuche, mich auf die fabelhafte Eiweisszufuhr zu konzentrieren und stelle mir vor, dass ich ein «Knusperli» im Gaumen habe, während mein Mann mich amüsiert anschaut. Insekten beeindrucken ihn nicht: Er steckt sich eine Handvoll in den Mund und isst sie, ohne gross darüber nachzudenken.
Die Energieriegel hingegen sind wirklich gut und angenehm: Die Grillen sind zu einem Pulver zerkleinert, und es ist kein Zucker zugesetzt. «Fein», rufe ich, während ich überlege, wie ich die aromatisierten Insekten loswerden kann.
Ich weiss, dass diesseits des Mittelmeers und des Kaspischen Meers der Weg zur Insektenküche noch weit ist. Aber wenn ich über die Geschichte der Kartoffel nachdenke, sehe ich ein Licht am Ende des Tunnels: Um 1500 ekelte sie die meisten Menschen an und wurde an Schweine verfüttert.
«Die Generation meines Grossvaters hätte nie Pizza oder Sushi gegessen. Es dauert lange, die Konsumentinnen und Konsumenten zu überzeugen», sagt der Ernährungsexperte Moretti. Irgendwie fühle ich mich ermutigt. Aber die Insekten sind noch im Küchenschrank.
Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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