Binnenland Schweiz will im Markt für vegane «Meeresfrüchte» Fuss fassen
Der Markt ist noch relativ neu und klein. Jedoch sind Alternativen zu Meeresfrüchten, die viele Proteine enthalten, laut Fachleuten das am schnellsten wachsende Teilsegment im Markt für pflanzliche Lebensmittel. Nun will sich die Schweiz ein Stück von diesem Kuchen abschneiden. Eine Hürde bleiben die hohen Preise.
Als Taucherin weiss Brittany Chibe, dass der Klimawandel und die Überfischung der Ozeane einen hohen Tribut fordern. Als sie vor sieben Jahren bei ihrem ersten Tauchgang die ausgebleichten Korallen des australischen Great Barrier Reef sah, war das eine niederschmetternde Erfahrung.
«Das war etwas, das mir sehr lange zu Herzen ging», sagt Chibe, eine 35-jährige Foodtech-Unternehmerin. «Und ich wusste nicht, wie ich als Einzelperson etwas ändern könnte.»
Als ihr Anne Palermo, die sie Jahre zuvor bei einer Netzwerkveranstaltung in Chicago kennengelernt hatte, Fotos von schwammähnlichen, meeresfruchtartigen Pilzen zeigte, die sie im Sommer 2020 in ihrer Küche gezüchtet hatte, erkannte Chibe das Potenzial und ergriff die Chance, etwas zu verändern.
Chibe schloss sich mit Palermo zusammen. Beide Frauen hatten bereits ihre eigenen Unternehmen, aber Chibe zögerte nicht, ihres zu verkaufen, um sich gemeinsam auf «Aqua Cultured Foods» zu konzentrieren. Sie gründeten das Unternehmen im Dezember 2020 in den Vereinigten Staaten.
Ihre Experimente in Chicago erregten schnell Aufmerksamkeit in der Schweiz. Anfang 2021 nahm das Startup an einem fünfmonatigen Accelerator-Programm bei «Big Ideas Venture» in den USA teil, das den Weg für eine Vorfinanzierung in Höhe von 2,3 Millionen Dollar ebnete.
Zu den Investoren gehörte Gonzalo Ramirez Martiarena, Geschäftsführer der Genfer Investitionsfirma «Swiss Pampa». Danach wurden Chibe und Palermo vom Zürcher Kickstart-Innovationsprogramm angesprochen. Das schliesslich führte zu einer Partnerschaft mit Migros, der grössten Detailhändlerin der Schweiz.
«Die Schweizerinnen und Schweizer haben ein Interesse an diesen alternativen Proteinen», sagt Chibe. Als nächsten Schritt plant sie, die Akzeptanz der pflanzlichen Meeresfrüchte-Alternativen ihres Unternehmens in der Schweiz zu testen.
«Es ist ein guter Markt, um in kleinerem Massstab zu testen, Feedback von den Konsumierenden zu erhalten und das Produkt bei Bedarf zu optimieren, bevor es im restlichen Europa eingeführt wird.»
Wenn es um Lebensmittel geht, ist die Schweiz ausgesprochen abenteuerlustig. Die Tradition hat das Land zu einem Synonym für Käse und Schokolade gemacht. Aber es war auch das erste Land in Europa, das Produkte aus Insekten zugelassen hat. Und es ist sehr innovativ in der Lebensmittelwissenschaft und -technologie.
«Plant based» hergestellte Produkte, also vegane Milch- und Fleischalternativen, sind bei den Schweizerinnen und Schweizern bereits ein Hit. Der Lebensmittelriese Nestlé und die Migros gehören zu den vielen Schweizer Unternehmen, die auf tierfreie Lebensmittel setzen, die Meeresfrüchte und Fisch geschmacklich glaubwürdig ersetzen können.
Insgesamt ist die Schweiz ein ideales Testgebiet für das Interesse der Konsumierenden und den Absatz. Die Vorschriften für neuartige Lebensmittel sind lockerer als in der Europäischen Union, und mehr und mehr Menschen sind sich der Umweltauswirkungen ihrer Konsumgewohnheiten bewusst.
Die Umwelt schonen
Die Verhinderung der Überfischung und der Zerstörung der Meere ist einer der Gründe, warum multinationale Schweizer Unternehmen und Startups auf der ganzen Welt auf den Bereich der alternativen Lebensmittel aufmerksam geworden sind.
Die Überfischung – wenn mehr Meerestiere gefangen werden als durch natürliche Vermehrung nachwachsen oder zuwandern – ist ein globales Problem, das durch die rasant steigende Nachfrage angetrieben wird und dem die Konsumentinnen und Konsumenten zunehmend Beachtung schenken.
In der seenreichen Schweiz werden jährlich rund 75’000 Tonnen Fisch konsumiert, das sind gegen acht Kilogramm pro Jahr und KopfExterner Link. Fast alle Fische und Meeresfrüchte, die in der Schweiz auf den Tisch kommen, werden importiert (laut FAO-StatistikenExterner Link wurden 2019 weniger als 3% im Inland gefangen).
«Die Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten gehen immer bewusster mit dem Konsum von tierischem Eiweiss um», sagt Nestlé-Sprecherin Inge Gratzer. «Das Segment der Fischalternativen hat ein grosses Potenzial und ist das am schnellsten wachsende Teilsegment im Markt für pflanzliche Mahlzeiten.»
Nestlé hat sich schon früh für diesen Bereich interessiert. Nachdem das Unternehmen veganen Speck, Käse und Burger auf den Markt gebracht hatte, machte es sich auf die Suche nach praktikablen Alternativen für Fisch und Meeresfrüchte.
Der Heureka-Moment für die Fachleute des Forschungszentrums in Lausanne kam im Winter 2019, als Forschende «VUNA» entwickelten, eine vegane Alternative zu Thunfisch. Sie waren der Meinung, dass diese geschmacklich und von der Textur her «überzeugend genug» sei, um es in Salate, Sandwiches und sogar auf Pizzen zu schaffen.
Das multinationale Unternehmen mit Sitz in Vevey brachte «VUNA» zunächst in der Schweiz auf den Markt und stellte es dann in den Niederlanden, Italien, Deutschland und Österreich in die Supermarktregale.
Geschwindigkeit ist der Schlüssel
Der nächste Durchbruch war «VRIMP», eine Shrimps nachahmende Ergänzung der veganen Produktlinie «Garden Gourmet». Dieses Produkt kam im Oktober 2021 auf den Markt. «Geschwindigkeit ist der Schlüssel zur Innovation», sagt Gratzer. «Vom Konzept bis zum Test im Laden vergingen bei ‹VUNA› neun Monate, bei ‹VRIMP› etwa zwölf Monate.»
Der Markt für alternative Meeresfrüchte ist noch relativ neu und klein. Fachleuten zufolge entwickelt er sich jedoch schnell, da sowohl grosse Unternehmen als auch kleinere Startups Meeresfrüchte aus Pflanzen, Mikroben durch Fermentation und tierischen Zellen herstellen.
Laut der gemeinnützigen Organisation «The Good Food Institute» ist die Zahl der Unternehmen in diesem Bereich weltweit von 29 im Jahr 2017 auf 87 im Juni 2021 gestiegen.
Die Produktentwicklung unterliegt der üblichen Geheimhaltung, aber das Interesse der Schweiz an alternativen Proteinen wächst. «Die Migros ist an Entwicklungen im Bereich Lebensmittel und Konsum interessiert und investiert in diesem Sinn in vielversprechende Unternehmen», sagt Migros-Sprecher Tristan Cerf auf Fragen zur Partnerschaft mit «Aqua Cultured Foods» und zu den allgemeinen Bemühungen im veganen Bereich.
Das Unternehmen lehnte es ab, spezifische Informationen oder Zahlen über seine Bemühungen zur Entwicklung alternativer Fisch- und Meeresfrüchteprodukte, Marktforschung und Investitionen zu nennen.
«Diese Bereiche befinden sich noch im Forschungsstadium, es gibt noch kein kultiviertes Fleisch [auch als Laborfleisch bekannt] oder kultivierten Fisch auf dem Markt», sagt Cerf. «Es wird einige Jahre dauern, bis die Produktion eine zugängliche Verfügbarkeit auf dem Markt gewährleisten kann.»
Letztes Jahr hat die Migros zusammen mit dem Lebensmitteltechnologie-Unternehmen Bühler und dem Geschmacks- und Aromahersteller Givaudan in der Nähe von Zürich ein Innovationszentrum für kultiviertes Fleisch eröffnet. Die Schweizer Unternehmen unterstützen gemeinsam die Bemühungen zur Herstellung von kultiviertem Fleisch, Fisch und Krustentieren.
Der Schweizerische Eiweissverband, eine Lobbygruppe, der Unternehmen für alternative Eiweisse angehören – Migros, die Kundig-Gruppe und Planted –, wurde 2021 ins Leben gerufen, «um Politikerinnen, Branchenführer und Konsumentinnen für die potenziellen Vorteile alternativer Quellen für eine klimafreundliche und nachhaltige Ernährung zu sensibilisieren».
«Die Schweiz als Land ist sehr gut positioniert, um eine führende Rolle in diesem Bereich zu übernehmen, da sie über ein so bedeutendes und kommerziell fortgeschrittenes Fachwissen verfügt. Ich denke, dass es hier viele Möglichkeiten gibt», sagt Carlotte Lucas, Corporate Engagement Manager des in Belgien ansässigen «Good Food Institute Europe».
Marktpotenzial
Und es gibt Geld zu verdienen. Das von der Europäischen Union finanzierte «Smart Protein Project» hat im vergangenen Jahr die ersten Daten zum Einzelhandelsumsatz mit pflanzlichen Lebensmitteln in Europa veröffentlicht.
Der Umsatz mit pflanzlichen Meeresfrüchten in Deutschland belief sich im Jahr 2020 auf etwa 1,9 Millionen Euro. Das entspricht einer Steigerung von 190% gegenüber 2019. Weltweit bedeuteten die 2,15 Milliarden Dollar, die 2020 in pflanzliches Eiweiss investiert wurden, ein Wachstum von 222% im Vergleich zum Vorjahr und entsprachen laut dem «Good Food Institute» 48% der gesamten Investitionen (4,43 Milliarden Dollar zwischen 1980 und 2020).
Das Institut ist der Meinung, dass der Markt für nachhaltige Meeresfrüchte einen Wert von 221 Milliarden Dollar haben könnte. Dabei geht man von einem Marktanteil von 1,4% am gesamten Weltmarkt für Meeresfrüchte aus.
Dieser Richtwert basiert auf der Entwicklung des Markts für pflanzliches Fleisch, der bereits heute 1,4% des weltweiten Fleischmarkts ausmacht. «Wir wissen, dass nachhaltige Meeresfrüchte ein paar Jahre im Rückstand sind», sagt Lucas.
Standort, Standort, Standort? Kein Thema
Ein entscheidender Vorteil der Produktion von alternativen Meeresfrüchten besteht darin, dass es keine geografischen Beschränkungen gibt, was zu einfacheren und kürzeren Lieferketten führt. Die Produktionsstätten können dort errichtet werden, wo die Nachfrage grösser ist, und nicht in der Nähe von gefährdeten Küstengebieten, wo auch der Boden teurer ist.
«Das Tolle an nachhaltigen pflanzlichen Meeresfrüchten ist, dass sie überall produziert werden können», sagt Lucas. «Sie müssen nicht in Küstennähe produziert werden, was es möglich macht, mehr Produkte in der Schweiz auf den Markt zu bringen. Das wäre sonst etwa aufgrund der Logistik schwierig.»
Aber es gibt auch Herausforderungen. Pflanzliche Fleisch- und Meeresfrüchte sind tendenziell teurer. Das kann ein Problem sein, wenn es darum geht, eine Kundschaft zu gewinnen und an ein Produkt zu binden.
Die Thunfisch-Alternative «VUNA» von Nestle kostet 3,71 Franken pro 100 Gramm, während die billigste Dose rosa Thunfisch in Wasser, die der Schweizer Einzelhändler Coop verkauft, 1,35 Franken für die gleiche Menge kostet. Und auch vegane Burger kosten in der Regel mehr als Rindfleisch-Burger.
«Eine grosse Herausforderung für den breiteren Sektor der nachhaltigen Proteine ist, die Preisparität von pflanzlichen Produkten im Vergleich zu ihren konventionellen Gegenstücken zu erreichen», sagt Foodtech-Unternehmerin Chibe.
«Ich denke aber auch, dass die Schweiz ein potenziell besserer Markt ist, weil der Lebensstandard hier höher ist und die Konsumierenden vielleicht daran gewöhnt sind, mehr für solche Produkte auszugeben.»
Und da konventionelle Meeresfrüchte teurer sind als konventionelles Fleisch, sei der Abstand zum Erreichen der Preisgleichheit bei pflanzlichen Meeresfrüchten geringer. «Es könnte sich also auszahlen», sagt sie.
Ziel ist es, nicht nur Veganerinnen und Veganer, sondern auch eine viel breitere Basis an Konsumentinnen und Konsumenten anzusprechen. In den Vereinigten Staaten durchgeführte Studien zeigen, dass diese Produkte auch flexitarisch und pescatarisch orientierte Personen ansprechen, also nicht nur solche, die sich vegetarisch oder vegan ernähren und damit allen Arten von tierischen Proteinen abgeschworen haben.
Die flexitarische Ernährung zielt darauf ab, den CO2-Fussabdruck jeder einzelnen Person zu verringern und die Gesundheit zu verbessern, indem der Fleischkonsum reduziert wird und stattdessen alternative Proteinquellen bevorzugt werden. Pescatarierinnen und Pescatarier lehnen rotes Fleisch ab, essen aber Fisch oder Meeresfrüchte.
In den Vereinigten Staaten ernähren sich etwa 40% der Bevölkerung flexitarisch. Oder sie versuchen aktiv, ihren Fleisch- und Meeresfrüchtekonsum zu reduzieren, selbst wenn es nur einmal pro Woche ist.
Gemäss dem «Plant-Based Food Report» 2021 von Coop würden rund 40% der 8,5 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, in den nächsten fünf Jahren gerne häufiger pflanzliche Alternativen essen. Also immerhin knapp die Hälfte.
«Das sind genau die Konsumentinnen und Konsumenten, die wir ansprechen wollen», sagt Chibe. «Menschen, die neugierig auf alternative Proteine sind und ihren Fleischkonsum reduzieren wollen, sei es aus ethischen oder ökologischen Gründen.»
Schweizer Detailhändler bieten in den Regalen ihrer Supermärkte bereits Hunderte von alternativen Proteinprodukten an. Die Migros führt nach eigenen Angaben mehr als 1000 zertifizierte vegane und vegetarische Produkte im Angebot und brachte allein im Jahr 2021 130 neue Produkte auf den Markt. Coop bietet nach eigenen Angaben mehr als 1200 solcher Produkte in seinen Regalen an und hat kürzlich seine eigene vegane Marke «Yolo» eingeführt.
Der «Gesundheits-Bonus»
Eine weitere Hürde ist die Tatsache, dass Fisch und Meeresfrüchte im Gegensatz zu Fleisch oder Milchprodukten von einem «Gesundheits-Bonus» profitieren. Laut Nestlé und «Aqua Cultured Foods» ist es keine leichte Aufgabe, den hohen Nährwert von Fisch zu erreichen – ganz zu schweigen von Geschmack, Textur und Aussehen.
«Wir haben unsere Technologien und unser Fachwissen in den Bereichen Pflanzenwissenschaften und Proteine genutzt, um den richtigen Geschmack und die richtige Textur für ‹VUNA› und ‹VRIMP› zu finden», sagt Gratzer.
Laut Lucas vom «Good Food Institute» ist es besonders schwierig, die Schuppigkeit, den Geschmack, die Textur und den Geruch von Fisch zu treffen – nicht zu wenig, nicht zu viel. Geschmack, Preis und einfache Handhabung sind der heilige Gral, wenn es darum geht, alternative Proteinprodukte erfolgreich zu positionieren.
«Schmecken diese Produkte genauso gut wie ihre traditionellen Originale? Kosten sie gleich viel oder weniger? Und sind sie überall erhältlich?», fragt sie. «Wenn der Foodsektor in der Lage ist, alle drei Punkte zu erfüllen, gibt es keinen Grund, warum die Konsumentinnen und Konsumenten diese Produkte nicht verwenden sollten.»
«Aqua Cultured Foods» experimentierte zunächst mit Popcorn-Garnelen und Calamari-Pommes, bevor es zu Meeresfrüchten und Fischalternativen in Ceviche-Qualität überging.
«In den ersten Tagen standen wir nur in ihrer Küche, haben die Pilze zerschnitten, mit ihnen herumgespielt, sie paniert und frittiert. Es war wirklich köstlich», erinnert sich Chibe in einem Videointerview. Das Unternehmen konzentriert sich nun darauf, den Geschmack zu verbessern, um seine Produkte im Jahr 2023 auf den Markt zu bringen.
«Wir befinden uns noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase», sagt Chibe. «Wir wollen den realistischen Geschmack, die Textur und das Aussehen von traditionellen Meeresfrüchten nachahmen. Die Hoffnung ist, dass wir damit die traditionellen Meeresfrüchte-Fans überzeugen können.»
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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