Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Das Jahrhundert des Bildes – Realität oder Realismus? (1)

"Le baiser de l’Hôtel de Ville" (1950) von Robert Doisneau. Doisneau / Rapho

Wie hat die Photographie das Jahrhundert wiedergegeben? Mit welchen Werkzeugen, welchen Tricks? Das siebte der zwölf vom Musée de l'Elysée in Lausanne ausgewählten Bilder: "Le baiser de l'Hôtel de Ville" (1950) von Robert Doisneau.

Es gibt Opern und Symphonien, aber auch Chansons und Schlager: die so genannte grosse Musik und Musik, die nicht vorgibt, etwas Besonderes zu sein. Alltagsmusik und Strassenmusik. Alles in allem gehören Bruant, Prévert, Renaud und Doisneau in die zweite Kategorie … Die Strasse ist lebendig, ist in Bewegung, und plötzlich bleibt das Auge des Künstlers an einem Detail hängen, an einem Fragment des Lebens, das er für immer festhalten will. Erfasste Augenblicke, gestohlene Augenblicke … oder speziell ausgewählte Augenblicke.

Die Terrasse eines Bistros, an einem Tisch sitzt ein Kunde. Ein Trottoir mit Passanten, einer verschwommen, der andere bereits zur Hälfte aus dem Bild. Autos auf der Strasse. Im Hintergrund das Rathaus von Paris, durch Distanz und Nebel verwischt. All das ist “Le baiser de l’Hôtel de Ville” von Robert Doisneau.

Und natürlich ist im Bild auch ein Paar zu sehen. Ein junges Paar, das alle Clichés über die französische Hauptstadt wunderbar zur Geltung bringt: Eleganz, Schönheit, Leichtigkeit, Liebe. Ein Paar wie Sie beide, ein Paar wie wir beide? Nicht ganz: ein Komödiantenpaar, das vom Photographen bezahlt wurde … Der Skandal war etwa so grosswie das Bild beliebt. Schwere Enttäuschung allerorts: das Bild ist gestellt.

Die Fakten: Doisneau machte dieses Bild, anders als die meisten andern, auf Bestellung. Fünf Jahre nach Ende des Kriegs gab “Life Magazine” ihm ein Bild in Auftrag, das die wieder gefundene Lebensfreude ausdrücken sollte, die Paris zu jener Zeit zu charakterisieren schien. Doisneau nahm den Auftrag an, und damit er die Frist einhalten konnte, half er dem Schicksal etwas nach und engagierte ein Figurantenpaar.

Das Bild war also gestellt … na und? Seit wann muss ein Kunstwerk der Realität entsprechen? Montand interpretierte “Battling Joe” – dazu musste er nicht Battling Joe sein. Balzac und Flaubert gaben dem Realismus, nicht der Realität Ausdruck. Trotzdem waren einige von Doisneau enttäuscht. Lag das am Künstler oder am Medium “Photographie”, das im sicher mehr als andere Realismus und Realität zu vermischen vermag?

“Lediglich das Paar ist inszeniert. Daneben setzt Doisneau auf den Augenblick, den entscheidenden Moment. Doisneau war ein sehr guter Strassenphotograph, deshalb gelang es ihm, beides zu vermischen. Und ironischerweise ist es die Realität dahinter, welche dem Bild grössere Glaubwürdigkeit verleiht”, meint William Ewing, Direktor des Musée de l’Elysée.

Für unverbesserliche Romantiker: “Das Komödiantenpaar war wirklich ein Paar!”, betont Mark Grosset von der Agentur Rapho. Zufrieden?

Bernard Léchot

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft