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Das älteste “Kino” der Welt

Im Wocher Panorama ist immer schönes Wetter. Christian Helmle

In Thun im Berner Oberland steht in einem unscheinbaren Rundbau das älteste erhaltene Panoramabild der Welt. Es zeigt die Stadt Thun an einem sonnigen Morgen im Jahr 1809. Ein Besuch im ältesten "Kino" der Welt.

Die Rotunde liegt versteckt im Thuner Schadaupark, nahe dem Ufer des Thunersees.

Kaum jemandem ist bekannt, dass sich in dem unscheinbaren Rundbau ein Juwel von unschätzbarem Wert befindet.

“Wir sind sehr dankbar, dass dieses Panorama erhalten geblieben ist”, sagt Jon Keller, Stadtarchivar von Thun. “Denn um 1800 gab es noch keine Fotografie.”

Das Panoramabild des Kunstmalers Marquard Wocher mit den Massen 7,5 x 38,3 Meter ist sehr detailgetreu ausgeführt, weiss Keller, der seit 37 Jahren Führungen macht und im 360-Grad-Bild oft wieder auf neue Details stösst.

Hier und dort macht er auf kleine Szenen aufmerksam, die erst beim zweiten oder dritten Hinsehen auffallen. Zum Beispiel einige Frauen, die in der Aare ihre Wäsche waschen.

“Dieses Detail finde ich sehr schön.” Ein historisches Alltagsdokument, das zeigt, wie mühsam das Leben vor der Erfindung der Waschmaschine und ohne fliessendes Wasser gewesen sei.

Einzigartig

Diese einmalige Momentaufnahme sei ein wichtiges Zeitdokument des beginnenden 19. Jahrhunderts, ist Kunsthistoriker Dominik Imhof überzeugt, der Kurator des Wocherpanoramas, das vom Kunstmuseum verwaltet wird.

“Es gibt kein anderes Panoramabild mit einem derartigen Motiv”, betont er. “Marquard Wocher hat eine ganz idyllische Ansicht eines Morgens in einer Kleinstadt gemalt.” Alle anderen heute noch erhaltenen Panoramen zeigen Schlachten, historisch bedeutende oder religiöse Ereignisse.

“Inzwischen ist es ganz einfach das älteste noch erhaltene Panoramabild in der ganzen Welt. Das macht es zu einem Juwel seiner Gattung.”

Der Mann auf dem Dach

Die Leute in Thun müssen nicht schlecht gestaunt haben, als sich der Kunstmaler Marquard Wocher eines Tages über den Dächern Thuns eine Plattform bauen liess und von dort die Rundsicht über die Stadt skizzierte.

Leider gibt es keine Quellen mehr, die über den seltsamen Mann auf einem Kamin an der Kreuzgasse berichten.

“Er hat dort oben Skizzen gemacht und drei grossformatige Aquarelle”, erklärt Imhof.

Diese dienten ihm in Basel als Vorlage zu seinem grossformatigen Rundbild in Öl auf Papier, das er auf Leinwand klebte.

“Dieses Panorama ist für uns wie eine Foto, eine einmalige Dokumentation, die genau stimmt”, erklärt Keller, denn Wocher habe nicht einfach fantasiert, als er das Gemälde in Basel nach seinen Thuner Skizzen gemalt habe.

“Wir kennen Briefe, in denen er beispielsweise aus Basel fragt, ob es auf diesem Hausdach zwei oder drei Kamine hat.”

Fotorealistisch

Nun könne man darüber diskutieren, ob solche Details wichtig seien oder nicht. “Doch für Marquard Wocher hat es eine Rolle gespielt”, betont Keller. “Er wollte ganz genau malen. Und darum ist dieses Panorama für uns Historiker gleich viel wert wie eine Fotografie.”

Am Basler Sternengässlein stellte er das Panoramabild schliesslich nach fünfjähriger Arbeit ab 1814 auch in einem Rundbau aus. Es war das erste Panorama in der Schweiz.

Vorläufer des Kinos

Panoramabilder waren Anfang des 19. Jahrhunderts die neuste Mode.

“Es war ein kommerzielles Unterfangen von Marquard Wocher selbst”, sagt Jon Keller. “Er betrieb dieses Panorama wie vielleicht heute ein Kinobesitzer ein Lichtspieltheater betreibt.”

Wocher habe für die Besichtigung des Rundbildes einen relativ hohen Eintritt verlangt, “aber die Leute haben das damals, weil es eine Sensation war, sehr gerne bezahlt. Und er lebte von diesen Einkünften”.

Und Kurator Imhof ergänzt: “Zu seiner Zeit war es vom Ereignis her wie heutzutage ein Blockbuster aus Hollywood.”

Es sei daher legitim, das Panorama als Vorläufer des Kinos zu bezeichnen, betont der Thuner Stadtarchivar. “Als dann der Stummfilm und nachher der Tonfilm kamen – das waren die Totengräber des Panoramas, denn das lebendige Bild war interessanter als das unbewegte der Panoramen.”

Leidensgeschichte

Wie das Panoramabild aus Basel schliesslich den Weg nach Thun gefunden hat, ist eine eigene Geschichte. Während viele dieser Panoramen wegen des aufkommenden Kinos in Vergessenheit geraten und verschollen gegangen waren, schenkte die Stadt Basel das Bild 1899 der Berner Oberländer Stadt.

Nach einer nationalen Ausstellung im Sommer 1943 wurde das Bild unter dem Turnhallenboden einer Schulanlage eingelagert und ging dort mit der Zeit vergessen.

In den 1950er-Jahren entdeckte es der damalige Stadtbaumeister Karl Keller (nicht verwandt mit Jon Keller) während einer Renovation. Er setzte sich dafür ein, dass das Bild ein angemessenes Haus erhält.

Nach einigem Suchen konnte im Sommer 1961 schliesslich die Rotunde im Park des Schlosses Schadau eingeweiht werden. Das Panorama von Thun hatte definitiv den Weg nach Hause gefunden.

Christian Raaflaub, Thun, swissinfo.ch

Der Blick über die Stadt Thun zeigt einen ganz normalen Morgen in der Kleinstadt am Thunersee.

Über 300 Menschen in den verschiedensten Situationen sind im Riesenbild zu finden.

Aus vielen Fenstern blicken Menschen nach draussen, einige direkt ins Auge des Betrachters.

Ein Detail am Rande: Marquard Wocher hat sich im Bild selber verewigt, allerdings nur von hinten.

Er könnte damit auch als Vorläufer für Regisseure wie Alfed Hitchcock bezeichnet werden, die gerne in ihren eigenen Werken auftraten.

Das Bild gehört seit 1960 der Eidgenössischen Gottfried-Keller-Stiftung.

Weltweit existieren lediglich noch 21 Rundbilder aus der Zeit vor 1900.

Marquard Wocher wird 1760 im Mimmenhausen bei Salem (Baden, Süddeutschland) geboren.

Seit 1779 lebt er in der Schweiz, zuerst in Bern, wo er als Illuminist und Porträtist arbeitet.

1782 zieht er nach Basel, wo er 1800 heiratet. Die Ehe bleibt kinderlos.

1809 bis 1814 erstellt er das Thun Panorama, das 1814 in Basel eröffnet wird.

1828 versucht Wocher, das Panorama wegen finanzieller Nöte zu versteigern – ohne Erfolg.

Im Jahr darauf stirbt Wocher völlig verarmt, das Bild wird versteigert.

Das Wocherpanorama feiert dieses Jahr das 200-jährige Jubiläum.

Am 28. Juni stieg ein grosses Fest im Schadaupark mit diversen Führungen und Veranstaltungen.

Dazu gab es Kulinarisches aus der Zeit Marquard Wochers.

Zudem hat das Kunstmuseum Thun im Mai erstmals ein Buch zu Marquard Wocher und seinem Panorama herausgegeben.

Längerfristig ist die Sanierung des Rundbaus geplant.

Dazu ist ein Anbau geplant sowie die Restauration des Panoramabildes.

Auf einer Website wird nun Geld für den Umbau gesammelt.

Verschiedene weitere Fundraising-Aktionen sind geplant.

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