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Zimmerleute auf Wanderschaft – eine alte Tradition

Wandergesellen Krasnenko (links) und Kunkel müssen drei Jahre lang mindestens 50 km von ihrem Heimatort entfernt bleiben. swissinfo.ch

Schwarze Samtkleidung, weite Schlaghose, ein Hut mit breiter Krempe und ein Reisebündel: Die Wander-Gesellen gleichen Gestalten aus früheren Zeiten. Die jungen Handwerker sind drei Jahre lang auf der "Walz", wie es eine 800-jährige Tradition vorschreibt.

Fast zwei Monate lang haben die zwei deutschen Gesellen in Murten, einer Westschweizer Kleinstadt, an der Restaurierung des Rathauses aus dem 15. Jahrhundert gearbeitet. Jetzt sei es Zeit, weiterzuwandern, sagten sie gegenüber swissinfo.ch.

“Kürzlich hat die Verkäuferin der Bäckerei für mich zwei Brötchen auf die Seite gelegt. Das ist ein Zeichen, dass man uns hier kennt”, erkärt der Zimmermann Johannes Krasnenko.

“Man sagt, wenn die Nachbarn einen küssen und die Hunde nicht mehr bellen, ist es Zeit zum Aufbruch”, ergänzt sein Reisekumpan Patrick Kunkel.

Die beiden jungen Männer scheinen in den gepflasterten Seitensträsschen Murtens nicht fehl am Platz zu sein. Sie schreiten regelgetreu in den Fussstapfen früherer Generationen der “Vereinigung rechtschaffener fremder Zimmer-und Schieferdeckergesellen Deutschlands”.

Gut möglich, dass Gesellen der Vereinigung, deren Hauptsitz rund 1000 Kilometer entfernt im deutschen Kiel liegt, am Rathaus Hand angelegt haben, als dieses 1416 erbaut wurde. Vielleicht waren auch Gesellen im 18. oder 19. Jahrhundert bei den Renovationen oder der Erstellung weiterer Gebäude dabei gewesen.

Staubige Sache

Die Gesellen von heute gehen mit dieser historischen Bedeutung locker um. An einem solchen Gebäude zu arbeiten sei nicht besonders beeindruckend, meint Krasnenko. “Es bedeutet, dass man Staub der letzten hundert Jahre am Kopf hat.”

Krasnenko, der aus einer Gegend 100 km nördlich von Hamburg stammt, ist seit einem Jahr unterwegs. Irgendwann tat er sich mit dem 21-jährigen Dachdecker Kunkel aus Ostdeutschland zusammen.

Die Bedingungen, um den Weg dieser uralten Sitte einzuschlagen, sind ziemlich strikt. Die “Gesellen”, wie diese Wanderer auf Deutsch genannt werden, müssen zwischen 20 und 30 Jahre alt sein, ungebunden, kinderlos und schuldenfrei sein.

Es sind Männer, in wenigen Fällen Frauen, die ihre Lehre in einem Bauhandwerk abgeschlossen haben. Ziel der Wanderjahre ist es, die Welt zu sehen und das Fachkönnen zu perfektionieren.

Während der “Walz” darf der Geselle einen Radius von 50 km um seinen Heimatort während dreier Jahre und einem Tag nicht betreten. Er trägt kein Mobiltelefon bei sich und soll sich ohne öffentlichen Verkehr fortbewegen. Die Wanderer sind entweder zu Fuss oder per Autostopp unterwegs von einem Arbeitsplatz zum anderen.

“Es geht darum, nicht reich an Geld, sondern an Erfahrungen zu werden”, erklärt Krasnenko. Die beiden haben ihren Wohnsitz mit 5 Euro in der Tasche verlassen und sollen mit dem gleichen Betrag heimkehren.

Die Wandergesellen sollen nicht länger als eine Woche ohne Arbeit sein und sich nicht länger als sechs Monate am selben Ort aufhalten. 

Spontan

In Murten wurde das Duo für die Arbeiten am Rathaus von Heiner Bosch, übernommen, der vor Ort ein Holzbau-Unternehmen führt. Wie es die Tradition vorschreibt, wurde dies nicht im Voraus vereinbart. Krasnenko und Kunkel tauchten im Berntor auf, einer kleinen Bar, die bei den Wanderern als Kontaktstelle im Ort bekannt ist.

Kurz darauf konnte Bosch, auch er ein ehemaliger Geselle, den Neuankömmlingen einen Job anbieten und für eine vorübergehende Unterkunft sorgen.

Krasnenko und Kunkel meldeten sich bei ihrer Ankunft in Murten auch bei den Stadtbehörden, wie es für Gesellen Usus ist. Die Wanderer tragen ein Wanderbuch bei sich, in dem sie von allen Orten, an denen sie sich aufhalten, die offiziellen Stempel sammeln. Früher entsprach das quasi einer Arbeitserlaubnis.

Die auffällige Kleidung ist nicht nur symbolisch, sondern auch praktisch. Es identifiziert den Gesellen als angesehenen Wanderer und zeigt auch die Symbole seines Handwerks und der Vereinigung, der er angehört. 

“Die acht Knöpfe auf der Weste stehen für die acht Arbeitsstunden am Tag und die sechs Knöpfe auf der Jacke für die sechs Arbeitstage pro Woche, so Kunkel. 

Wiederbelebung

Die Tradition erlebt seit etwa einer Generation einen neuen Aufschwung. Es gibt wieder mehr junge Leute, die auf Wanderschaft gehen. Stark vertreten sind sie in deutschsprachigen Ländern, aber auch in der französischsprachigen Schweiz und Frankreich, in Belgien und Skandinavien wird die Tradition wieder gelebt.

Die deutschen Gesellen in Murten sind mit einer Liste von Adressen der Kontaktorte in verschiednen Ländern gewappnet, insbesondere von Gasthäusern, an die sie sich auf ihrer Wanderroute wenden können.

Zur Zeit sind auch etwa 10 Schweizer Gesellen unterwegs. Laut Hansueli Diem, einem ehemaligen Wandergesellen, der regelmässig an Gesellen-Treffpunkten in St. Gallen dabei ist, gehören sie zur deutschen Vereinigung.  

Krasnenko und Kunkel sind glücklich, einen einfachen Lebensstil zu führen, abseits der unmittelbaren und ständigen Kommunikation: Man könnte es so formulieren, meint Krasnenko: “Die anderen leben nach der Uhr, wir haben Zeit.”

Die beiden haben ihr Bündel erneut geschnürt und Murten am 22. Oktober in Richtung Düsseldorf in Deutschland verlassen. Ihr nächstes gemeinsames Ziel bis zum Jahresende ist Namibia.

Einst Bedingung, um einer Zunft als Meister anzugehören, diente die Wanderschaft, die auf das Mittelalter zurückgeht, der Zeit nach Abschluss einer Lehre dazu, Arbeitserfahrung zu sammeln.

Während der Nazizeit in Deutschland war die “Walz” verboten und während des kommunistischen Regimes in der DDR nicht durchführbar.

Die Tradition der Wanderjahre erfährt zur Zeit wieder grösserer Beliebtheit. Sie wird aber nur von einer Handvoll neu ausgebildeter Zimmerleuten,  Dachdeckern und Steinmetzen praktiziert.

Schweizer Gesellen sind meist als Mitglieder deutscher oder französischer Vereinigungen unterwegs.

(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

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