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Ein altes Kunsthandwerk neu entdeckt

Das Ehepaar Helfer an der Arbeit vor seinem Haus in Bümpliz. swissinfo.ch

Die Berner Familie Helfer ist Feuer und Flamme für Stroh. Sie verarbeitet das Material zu Hüten, Zylindern, Geflechten und Weihnachtsschmuck. Hüte der Helfers haben es bereits bis ins grosse Kino geschafft: Auf die Köpfe von Salma Hayek und Gérard Depardieu.

Ein kleines Einfamilienhaus in Bümpliz, einem Aussenquartier im Westen der Stadt Bern. Im Garten sitzt das Ehepaar Helfer und arbeitet an einem Strohhut. Stroh ist ihre grosse Leidenschaft.

“Für mich ist diese Arbeit eine Therapie”, sagt Frédéric Helfer, der im Freilichtmuseum Ballenberg zusammen mit seiner Frau Liselotte auch Kurse anbietet. “Dort hören wir jeweils die Fliegen summen. Alles ist schön still, es ist fast wie Meditation.”

Wer bei den Helfers nach einem Atelier sucht, wird schnell eines Besseren belehrt: Das Hutflechten braucht nicht viel Platz. Die beiden etwas über 60-jährigen Frühpensionierten stellen ihren Flechtstuhl dort auf, wo es ihnen gerade passt: Bei Schlechtwetter betreiben sie ihr Hobby im Wohnzimmer, bei Sonnenschein im Garten.

Die Faszination am Stroh liegt für Frédéric Helfer darin, dass er den gesamten Prozess des Materials begleiten kann: “Es ist ein Naturprodukt, das man selber anpflanzen kann. Man kann mit ihm von A bis Z arbeiten, vom Korn bis zum Hut.”

Einen Teil des Strohs, das die Familie zur Verarbeitung braucht, pflanzen die Helfers im eigenen Garten an, den Rest beziehen sie aus dem Burgund. Die Nähe zum heranwachsenden Roggen und Weizen ist für Frédéric Helfer sehr wichtig, denn “für die Ernte muss man das richtige Stadium erwischen”. Benutzt wird nur der oberste Teil des Halms.

Zudem konnten sie von einer Schweizer Firma eine grössere Strohreserve aus dem Jahr 1920 übernehmen. Ein Glücksfall, denn dieses Stroh weist eine sehr hohe Qualität auf: “Die Luft war damals besser”, so Helfer, der seit etwa 15 Jahren die Schweizerische Stiftung Strohverarbeitung präsidiert.

Bis nach Hollywood

Pro Jahr stellen die Helfers rund 10 Hüte her. Der “einfache” Strohhut, den beispielsweise die Gondolieri in Venedig tragen, wird Canotier genannt. “Für einen Canotier brauche ich im Normalfall 20 Stunden, für einen Zylinder knüpft man etwa 30 Stunden”, sagt Helfer. “Ein Canotier hat 2500 Knoten, ein Zylinder 5000.”

Zwischen 300 und 700 Franken muss man auslegen, um sich einen solchen “Röhrlihut” knüpfen zu lassen, bei dem die Halme nicht zusammengepresst wurden und der damit luftdurchlässiger ist.

Dafür ist jedes Modell eine Massanfertigung, wie Liselotte Helfer sagt. “Es ist eine Kunst, unsere Kunden wollen etwas mehr. Das sind Sonntags-Hüte, die wir herstellen.”

Die Helfers sind laut eigenen Angaben weltweit die einzigen Produzenten von Zylindern mit gekrümmter Krempe aus Stroh. Ein höchst anspruchsvolles Modell, das es bereits ins grosse Kino geschafft hat: Im französischen Mystery-Thriller Vidocq trägt Hauptdarsteller Gérard Depardieu einen schwarzen Strohzylinder von Frédéric Helfer. Und in Bandidas tritt Hollywood-Star Salma Hayek mit einem Helfer-Modell auf.

Zufallsfund

Aufs Stroh gekommen sind die Helfers Ende der 1980er-Jahre aus purem Zufall. Die beiden hatten damals noch bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) gearbeitet und besuchten viele Jodlertreffen: “Meine Frau hat 30 Jahre lang gejodelt”, erzählt Frédéric Helfer.

“Wir waren an einer Bodenalp-Chilbi am Beatenberg. Es war sehr heiss, die Sonne schien. Am zweiten Tag sagte ich, jetzt bestellen wir Strohhüte, ich will keinen roten Kopf mehr!”

Und seine Frau Liselotte fährt weiter: “Die Frau dort sagte uns: Ihr könnt solche Hüte auch selber machen. Mein Mann hatte sich für einen Herrenhut interessiert, den es aber nicht gab. Er sagte: Wenn Sie mir zeigen, wie das geht, mache ich einen. Und so ist es dazu gekommen.”

Die Helfers hatten damit ein altes Handwerk neu entdeckt. Vorher hatten sie überhaupt nichts über die Strohverarbeitung gewusst. Es gebe auch kaum schriftliche Dokumente über dieses Handwerk, sagt Frédéric Helfer. Das Geheimwissen sei weitgehend in den Familien geblieben, die Stroh bearbeiteten.

Generationenverbindend

Liselotte Helfer hat sich auf kunstvolle Flechtarbeiten spezialisiert, so genannte Agréments. “Ich habe immer gerne Handarbeiten gemacht”, sagt sie.

Die Helfers stellen auch Weihnachtsdekorationen her, die auf dem gleichen Prinzip des Huts basieren, aber als Sterne geknüpft werden.

Mit seiner Leidenschaft hat das Ehepaar schon längst die nächste Generation angesteckt: Kürzlich hat ihre älteste Tochter Monique ihre Master-Arbeit an der Universität Bern abgeliefert. Der Titel: “Eine Industrie nimmt den Hut. Aufschwung, Krisen und Untergang der schweizerischen Stroh- und Hutflechtindustrie zwischen 1800 und 1974”.

Die Produktion von Artikeln aus Stroh war eine Zeitlang einer der wichtigsten Faktoren der Schweizer Wirtschaft.

Für viele war die Strohverarbeitung in den Wintermonaten eine willkommene Heimarbeit.

Ab 1800 wurde daraus eine Industrie: Laut Frédéric Helfer arbeiteten von 1820 bis etwa 1950 zwischen 70’000 und 80’000 Personen mit Stroh. Heute sind es nur noch einige wenige.

Die meisten Strohprodukte, zumeist Hüte, wurden ins Ausland exportiert. Die Exporte erreichten einen Umfang von einigen 100 Mio. Fr. pro Jahr.

In der Hutherstellung aus Stroh unterscheidet man zwei Arten der Verarbeitung:

Röhrlihut: Die Strohhalme bleiben intakt und werden in ihrer ursprünglichen Form zusammengeknüpft. Die etwas teureren Hüte bieten so eine natürliche Lüftung.

Bändelihut: Die Strohhalme werden flachgepresst und zu Hüten vernäht. Solche Hüte werden oft maschinell hergestellt und sind daher preiswerter.

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