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“Die Beziehungen zur Schweiz sind ausgezeichnet”

Barroso will in der Schweiz auch den Steuerstreit ansprechen. Keystone

Vor seinem ersten offiziellen Besuch in der Schweiz, der am Freitag beginnt, sieht EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nur wenige bilaterale Probleme. Im Steuerstreit setze die EU der Schweiz keine Frist, betonte er.

swissinfo: Herr Präsident, worauf freuen sie sich stärker: Auf den Besuch bei Bundespräsident Couchepin in Bern oder auf die Fussballspiele der Euro 2008, die Sie in Basel und Genf sehen werden?

José Manuel Barroso: (lacht) Der eigentliche Zweck ist mein erster offizieller Besuch als Kommissionspräsident in der Schweiz.

Aber natürlich freut mich die Einladung der schweizerischen Regierung zur Eröffnung der europäischen Fussballmeisterschaft sehr.

swissinfo: Ist die Euro 2008 für die Schweiz eine Gelegenheit, ihre Zugehörigkeit zu Europa zu unterstreichen, obwohl sie nicht Mitglied der Europäischen Union ist?

J.M.B.: Die Schweiz ist im Herzen Europas. Ich hoffe, dass das europäische Herz der Schweiz mit der Intensivierung unserer Beziehung immer heftiger schlagen wird.

Aber natürlich respektieren wir die Souveränität der Schweiz. Es liegt an ihr, zu bestimmen, welche Art von Beziehung sie zur Europäischen Union wünscht.

Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass unsere Beziehung nicht nur wirtschaftlicher Natur ist. Auch in politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen Fragen gibt es einen regen Austausch.

Als Student aus Portugal erlebte ich dies sehr direkt, als ich ein Stipendium der Schweiz für Studien in Genf erhielt und hier mit einer sehr grossen Gastfreundschaft empfangen wurde.

swissinfo: Sie erlebten also die Vorzüge der Personenfreizügigkeit lange bevor sie eingeführt wurde?

J.M.B.: Personenfreizügigkeit im heutigen Sinn war das nun allerdings nicht gerade – ich verbrachte damals ziemlich viel Zeit vor dem Schalter der Einwohnerkontrolle Genf, das lief recht bürokratisch ab.

Ich glaube, dass dies dank der Personenfreizügigkeit sehr viel besser ist. Als ich 1972 in die Schweiz ging, war das System für Leute aus Portugal sehr viel restriktiver als heute.

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swissinfo: Sie haben die Entscheidungsfreiheit der Schweiz angesprochen. Umfasst dies auch das Recht, in einer Volksabstimmung Nein zur Personenfreizügigkeit zu sagen?

J.M.B.: Wir haben mit grosser Befriedigung gesehen, dass das Schweizer Volk bereits wiederholt für mehr Offenheit bei der Personenfreizügigkeit gestimmt hat.

Wir hoffen, dass dies auch bei der Fortführung und Ausdehnung dieses Abkommens auf Rumänien und Bulgarien der Fall sein wird. Aus unserer europäischen Perspektive betrachtet besteht die EU nun aus 27 Mitgliedern.

Wir hoffen, dass die Schweiz respektiert, dass man zwischen EU-Bürgern keine Diskriminierung haben darf – Schweizer Bürger darf man ja auch nicht unterschiedlich behandeln, nur weil sie aus verschiedenen Kantonen stammen.

swissinfo: Was geschähe bei einem Volks-Nein? Wäre ein zweiter Anlauf möglich?

J.M.B.: Wie Sie aus früheren Interviews wissen, spekuliere ich nie über negative Hypothesen. Konzentrieren wir uns auf das Positive: Natürlich hoffe ich auf einen positiven Ausgang einer Volksabstimmung.

swissinfo: 2006 forderten Sie in Interviews mit Nachdruck eine Änderung gewisser kantonaler Steuerregimes für Firmen. Wie lange geben Sie der Schweiz in dieser Frage Zeit?

J.M.B.: Wir haben darüber sehr offen gesprochen, und ich glaube, dass unsere Botschaft angekommen ist. Wir pflegen jetzt einen sehr konstruktiven Dialog.

Ich hoffe, dass wir eine Lösung finden, die für die Schweiz akzeptabel ist und zugleich die Interessen der EU respektiert.

swissinfo: Gibt es eine “Deadline”?

J.M.B.: Nein. Bereits das Wort “Deadline” ist schrecklich; wir engagieren uns in einem konstruktiven und positiven Dialog.

Natürlich sollte dies zu einer Lösung innerhalb eines vernünftigen Zeitraums führen, wir setzen aber keine verbindlichen Fristen.

swissinfo: Bezüglich des Bankgeheimnisses fühlt sich die Schweiz aber sehr wohl regelmässig unter Druck aus Brüssel.

J.M.B.: Die laufende Diskussion über die Revision der Zinsbesteuerungsrichtlinie ist vorerst eine rein interne Angelegenheit der EU.

Wir wollen bis diesen Herbst prüfen, wie die Effektivität dieser Richtlinie innerhalb der EU verbessert werden kann. Das Bankgeheimnis der Schweiz steht nicht auf der Agenda dieser Revision.

swissinfo: Gibt es nicht eine gewisse Ermüdung in der EU-Verwaltung, sich immer wieder mit den Sonderwünschen dieses kleinen Landes zu befassen?

J.M.B.: Unterschätzen Sie Ihr Land nicht! Natürlich ist es klein, aber alles ist relativ: Verglichen mit China ist auch die EU klein.

Als Handelspartner zum Beispiel ist die Schweiz für uns wichtiger als China. Für mich noch wichtiger als diese ökonomische Tatsache ist der Respekt für die Vielfalt in Europa.

Das Motto der EU ist die Einheit in der Vielfalt – und da haben sich die Gründerväter Europas stark vom föderalistischen Aufbau der Schweiz inspirieren lassen.

swissinfo, Simon Thönen, Brüssel

(EU-Kommissionspräsident Barroso führte das Gespräch in Brüssel mit Korrespondenten mehrerer Schweizer Zeitungen.)

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Barroso wird in Bern von Bundespräsident Pascal Couchepin und nicht weniger als vier weiteren Regierungsmitgliedern empfangen: Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, Wirtschaftsministerin Doris Leuthard, Verkehrsminister Moritz Leuenberger und Finanzminister Hans-Rudolf Merz.

Beim gemeinsamen Arbeitsessen will die Schweizer Delegation die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sowie diverse internationale Themen ansprechen.

Damit dürften laufende Verhandlungen zum Beispiel über ein Strommarktabkommen gemeint sein, aber auch neue Dossiers wie der Agrarfreihandel oder ein Gesundheitsabkommen, für die der Bundesrat im März ein Verhandlungsmandat beschlossen hat.

Dass der Bundesrat den Fussballfan Barroso am Samstag zur Eröffnung der Euro 2008 eingeladen hat, dürfte ihm den Schweizer Besuch versüssen.

Am Samstag wird er in Basel das Eröffnungsspiel Schweiz-Tschechien besuchen und danach in Genf das Spiel seines Heimatlandes gegen die Türkei.

Sein Besuch schliesst eine eigentliche Brüsseler Woche in der Schweiz ab, die letzten Sonntagabend mit einem Treffen zwischen Bundesrätin Calmy-Rey und EU-Aussenkommissarin Benita Ferrero-Waldner begonnen hat.

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