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Nationalrat für zwei EU-Vorlagen

Keystone

Über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien soll das Volk separat abstimmen können. Das hat der Nationalrat nach langer Diskussion beschlossen.

Zur Debatte standen die künftigen Beziehungen der Schweiz mit ihrem wichtigsten Wirtschaftspartner, der EU. Die EU und die Schweizer Regierung wollen die Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien ausdehnen und die bestehende Freizügigkeitsregelung weiterführen.

Wegen der Guillotine-Klausel wären bei einem allfälligen Schweizer Nein die bilateralen Abkommen mit der EU zumindest hoch gefährdet.

Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard bezeichnete die bestehende Freizügigkeit mit der “EU 25” als “Erfolgsmodell für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt”. 2009 muss das Schweizer Volk über eine Verlängerung abstimmen. Gleichzeitig steht die Erweiterung auf die beiden neuen EU-Länder an.

Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) bekämpft die Erweiterung. Das “Erfolgsmodell” hingegen will sie weiterführen. Deshalb plädierte sie für die Entkoppelung der beiden Vorlagen.

Sozialdemokraten, Grüne und Christdemokraten befürworteten eine Weiterführung und die Erweiterung. Sie plädierten für eine Paketvorlage. Die Freisinnigen votierten, wie die Landesregierung, für Weiterführung und Erweiterung, aber für getrennte Vorlagen.

Fernseh-Debatte

Schliesslich hat sich der Nationalrat (grosse Kammer) mit 101 zu 82 Stimmen für zwei getrennte Vorlagen entschieden. Nun geht die Vorlage zur Differenzbereinigung zurück in den Ständerat (kleine Kammer). Dieser hatte sich für eine Paketvorlage entschieden.

Nichteintretens- und Rückweisungsanträge der SVP hat der Rat klar abgelehnt. Die SVP wollte das Thema mit einem Einlenken der EU im Steuerstreit verknüpfen.

Das Schweizer Fernsehen war da und hat die Debatte dorthin übertragen, wo Schweizer Politiker gewählt werden: in die Wahlkreise im Land. Das Parlament parlierte mehr als sechs Stunden lang. Die Argumentationen wiederholten sich.

Neue Märkte

“Die Erweiterung öffnet die Tür zu 30 Millionen neuen Konsumenten. Die beiden Länder haben ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 5 bis 6%. Das sind Zukunftsmärkte für unsere Exportwirtschaft”, sagte die Sozialdemokratin Evi Allemann.

Der Sozialdemokrat Hansjörg Fehr mahnte, dass im Fall einer Ablehnung die Bilateralen Abkommen hinfällig würden und alles “zertrümmert am Boden” läge. Gleichzeitig appellierte er an die Kantone, die flankierenden Massnahmen gegen das Lohndumping korrekt zu vollziehen. “Damit erzielen wir mehr Akzeptanz in der Bevölkerung.”

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“Kriminalität und Einwanderung”

Die Freisinnige Christa Markwalder-Bär bezeichnete die Freizügigkeit als zentralen Pfeiler für Wohlstand und Wirtschaftswachstum. “Niemals würden wir akzeptieren, wenn die EU einen bilateralen Vertrag nur mit der Innerschweiz oder dem Tessin abschliessen würde. Weder die Schweiz noch die EU tolerieren eine interne Diskriminierung.”

Aussenministerin Micheline Calmy-Rey bezeichnete die Erweiterung als “logische Folge unserer Europapolitik”.

“Roma”, “Kriminalität”, “illegale Einwanderung” – das waren die Stichworte vieler SVP-Redner. Es sei zudem lediglich eine Frage der Zeit, bis Serbien, Bosnien, Kosovo und später auch die Türkei der EU beitreten würden. Dann müsse die Schweiz die Freizügigkeit weiter ausdehnen.

“Wir haben schon derart viele Vertreter dieser Länder, die hier wohnen, dass das einen riesigen Sogeffekt geben wird”, sagte SVP-Nationalrat Luzi Stamm.

Einfacher Import

Eigentlich brauche es die Freizügigkeit gar nicht, so Stamm: “Wir könnten zum Beispiel sagen: Aus Deutschland holen wir die Leute während den nächsten drei, vier Jahren unlimitiert, die Arbeitgeber können sie einfach importieren, wenn sie wollen.”

Doris Leuthard erinnerte an die Diskussionen zur ersten Abstimmung über die Personenfreizügigkeit vor einigen Jahren. “Damals hiess es, jetzt kommen die billigen Portugiesen. Bei der Ausweitung hiess es, jetzt kommen die billigen Menschen aus Polen.”

Tatsache sei jedoch, dass “gut bis bestens qualifizierte Arbeitskräfte” zuwanderten, die Arbeitslosenquote seit der Einführung der Freizügigkeit gesunken und keine negativen Auswirkungen auf das Lohnniveau nachweisbar seien.

swissinfo, Andreas Keiser

Laut einem Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat sich die Personenfreizügigkeit als Wirtschaftsmotor bewährt.

Negative Auswirkungen auf das Lohnniveau und die Sozialwerke blieben aus.

Die Arbeitslosenquote sei konjunkturbedingt stark gesunken. Weder eine Verdrängung von Schweizer Arbeitnehmenden noch Lohndumping seien feststellbar.

Laut Seco-Direktor Jean Daniel Gerber ist die Freizügigkeit für die Schweizer auch das Tor für den freien und gleichberechtigten Zugang zum EU-Raum. Dieser Aspekt gehe häufig vergessen.

Die Zuwanderung aus der EU ist laut Gerber konjunkturabhängig und orientiere sich an der Personalnachfrage der Unternehmen.

Sollte die Konjunktur schwächeln oder gar in eine Rezession tauchen, kämen auch weniger EU-Staatsangehörige in die Schweiz.

Das Abkommen über den freien Personenverkehr mit den 15 “alten” EU-Staaten ist seit dem 1. Juni 2002 in Kraft.

Im September 2005 hat das Schweizer Stimmvolk einer Ausdehnung auf die zehn Länder zugestimmt, die im Mai 2004 zur EU stiessen (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern).

Der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU ist bis 2009 befristet. Seitens der EU wird das Abkommen stillschweigend verlängert, in der Schweiz ist die Fortführung dem fakultativen Referendum unterstellt.

Gleichzeitig mit der Weiterführung soll die Personenfreizügigkeit auf die neusten beiden EU-Mitglieder, Rumänien und Bulgarien, ausgedehnt werden.

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