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Ja, Wien!

Wiener Gemütlichkeit: Das Cafe Hawelka. AFP

"Gewisse schweizerische Selbstverständlichkeiten gehören in Wien zum Unmöglichen", schreibt Christoph Braendle. Man könne die Stadt lieben oder hassen, aber nicht von ihr lassen. Der Schweizer Schriftsteller lebt seit 1987 in Wien.

Lange, sehr lange habe ich widerstehen können. Ich bin vor dreiundzwanzig Jahren ja nicht nach Wien gekommen, um mich mit Schweizern zu treffen. So habe ich denn auch kaum Landsleute kennengelernt. Was nicht besonders schwierig ist: Erstens gibt es nicht allzu viele, ein paar tausend in ganz Österreich vielleicht, und zweitens verstecken sie sich, sie tarnen sich gut: als Inländer; fallen auch sprachlich nicht wirklich auf, in Wien schon gar nicht, weil die Wiener kein Ohr für die Dialekte des Westens haben. Eher wird man zum Tiroler, Vorarlberger oder allenfalls Bayer, was damit zusammen hängen mag, dass die Schweiz im allgemeinen Bewusstsein eher hintergründig existiert – das Verhältnis zwischen der Schweiz und Österreich scheint eines des Nicht-Wahrnehmens zu sein.

Eintauchen in die Fremde, anpassen, ja eigentlich fast auflösen im Anderen funktioniert hervorragend, auch wenn man sich typisch schweizerische Eigenarten bewahrt.

Überall getarnte Landsleute

Und jetzt das! Ich werde von einem Wiener Verlag gebeten, ein Buch über Schweizer in Österreich als Herausgeber zu betreuen. Wie ein Fischer werfe ich meine Netze aus, um verblüfft festzustellen, dass sie überall sind, meine Landsleute, und dass das, was sie mir berichten, alle Klischees bestätigt, so dass sich mir unweigerlich die Frage stellt, was denn ein Klischee überhaupt ist.

Nach der Definition müsste es sich um eine überkommene Vorstellung oder ein eingefahrenes Denkschema, eine abgedroschene Redensart oder vorgeprägte Ausdrucksweise oder ein überbeanspruchtes Bild handeln. Es heisst, ein Klischee sei sprachlich schablonenhaft und werde ohne individuelle Überzeugung unbedacht übernommen. Seltsam dünkte es mich dennoch, dass eine schöne Anzahl höchst unterschiedlicher Leute, ob sie nun kurz oder lang hier sind und ziemlich unabhängig vom Beruf, den sie ausüben, zu verblüffend ähnlichen Ergebnissen kommen, die wie Leitmotive einer kulturellen Differenzierung klingen.

Eines dieser Leitmotive handelt von dem, was ich hier höflich mit der sprachlichen Wendigkeit der Wiener umschreiben will – der Wiener ausdrücklich übrigens, weil sie sich abschleift, je weiter man in den österreichischen Westen gelangt -, eine Wendigkeit, die auch als problematischer Umgang mit der Wahrheit, als Schmäh, als Denkfaulheit und als Mangel im analytischen Ausdruck wahrgenommen wird.

Wahn und Wirklichkeit

Persönlich habe ich das so erlebt: Meine ersten sieben Jahre in Wien verbrachte ich wie im Rausch. Ich empfand die Leute als unglaublich freundlich, zuvorkommend und mir zugeneigt, und ich gewann den Eindruck, dass man mich für einen netten, umgänglichen und gerne gesehenen Fremden halte, den man am liebsten auf der Stelle einbürgern würde.

Nach sieben Jahren riss dieses Bild, als ich erfuhr, dass man mich, allerdings nur hinter meinem Rücken, als egozentrisch, abweisend und mürrisch zu charakterisieren pflege. Ein gewaltigeres Auseinanderklaffen von Wahn und Wirklichkeit war mir zuvor niemals begegnet. Das liegt auch daran, dass gewisse schweizerische Selbstverständlichkeiten hier in den Bereich des Unmöglichen gehören, freundschaftliche Auseinandersetzungen zum Beispiel, während derer man ehrlich sagt, was man vom anderen hält; Gespräche auch, die sich um eine Sache drehen, Diskussionen statt small talk: Ich habe, so unfassbar es klingen mag, während meiner 23 Jahre Wien in einer mehrheitlich aus Wienern bestehenden Runde kaum jemals einen fairen, sachlichen, aber auch harten Diskurs erlebt. Hier gehört man dazu und hat entsprechende Meinungen zu teilen; oder man gehört zum Feind und ist im besten Fall noch nicht einmal zu ignorieren.

Überraschende Urbanität

Trotzdem erliegen gerade wir Ausländer dem Wiener Volkssport des Grantelns, des Nörgelns und Jammerns am wenigsten. Oft weisen wir darauf hin, dass Wien ein enorm lebenswertes Biotop darstelle, und keiner will daran denken, wegzuziehen. Alle loben die vielen Qualitäten der Stadt, zu der Sicherheit, Gemütlichkeit und überschaubare Urbanität gehören, eine Urbanität übrigens, die ab und zu wirklich zu überraschen versteht, und zwar im Moment in meiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Dieser Tage wird das neue Haus von Jean Nouvel eröffnet. Ich habe den gesamten Bauprozess vom ersten Dreinschlagen der Abrissbirne an hautnahe miterlebt; mich dünkt dieser dunkle, schräg aus dem Boden herauswachsende, breite und mächtige Turm mit den auch von den Strassen her gut einsehbaren Deckenfresken von Pipilotti Rist, die dank ihrer schieren Monumentalität an die sixtinische Kapelle erinnern, ein architektonischer Glückswurf. Ja, Wien! Konservativ und traditionsverhaftet und trotzdem manchmal erfrischend modern: man kann die Stadt lieben und hassen, aber man wird trotzdem nicht von ihr lassen.

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Christoph Braendle wurde 1953 in Bern geboren.

Er studierte in Zürich einige Semester Jurisprudenz, unternahm ausgedehnte Reisen in Europa und Asien.

Zwischen 1979 und 1982 lebte der Schriftsteller und Journalist in den USA und Mexiko. 1987 liess er sich in Wien nieder.

Er hat Romane, Essays, Reportagen und Theaterstücke geschrieben. Er ist Gründer und Leiter des Wiener Salon Theaters.

Wien

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