Schiedsrichter erinnert sich an Heysel-Drama

Vor 20 Jahren leitete der Schweizer Schiedsrichter André Daïna das tragische Endspiel des Europacups der Meister im Brüsseler Heysel-Stadion mit 39 Toten.
Im Gespräch mit swissinfo erinnert sich Daïna an den verheerenden Abend und äussert sich zur Sicherheit in den Stadien heute.
29. Mai 1985, Brüssel, Heysel-Stadion: Es sollte ein Fussballfest werden und endete in einer Tragödie – der Cup-Final der europäischen Meister (heute Champions League), Juventus Turin gegen Liverpool.
Die Bilder der Absperrgitter und einer unter dem Gewicht der Zuschauermassen einstürzenden Mauer, blutüberströmte Menschen, erdrückt oder zu Tode getrampelt, vergisst man nie. 39 Tote, davon 32 italienische Fans, 600 Schwerverletzte: Sie alle wurden Opfer der zum Teil alkoholisierten britischen Hooligans.
20 Jahre nach der Tragödie spricht André Daïna, der selber Fussballer in der Nationalliga A und Nationalspieler war und später Schiedsrichter wurde, darüber.
swissinfo: André Daïna, dieser traurige 20. Jahrestag erinnert Sie sicher wieder an die schrecklichen Ereignisse. Was fühlen Sie da?
André Daïna: Ehrlich gesagt, ich habe ein bisschen genug davon. Das Ereignis ist aber derart schlimm, dass man es nicht einfach vergessen kann. Ich glaube, es geht um Erinnerungsarbeit – Erinnerung an jene Menschen, die zum Endspiel ins Heysel-Stadion kamen und von dort nie mehr nach Hause zurückkehrten.
Der Fussball aber hat sich davon erholt. Der Sieg Liverpools im Champions-League-Final am letzten Mittwoch gegen AC Milan hat – 20 Jahre nach dem Heysel-Trauma – das traurige Kapitel irgendwie abgeschlossen. Ich wäre am Mittwoch gerne an diesem wahrhaften Fussball-Fest dabei gewesen.
swissinfo: Welche Erinnerung haben Sie nach 20 Jahren an den Abend vom 29. Mai 1985 in Brüssel?
A.D.: Ich erinnere mich ganz genau daran. Natürlich sah ich die Ereignisse nicht direkt, weil ich der Kabine eingeschlossen war. Ich habe die Bilder erst nachher im Fernsehen gesehen.
Mehrere Personen, die Zeugen der Ereignisse waren, berichteten mir aber darüber. Wir wussten, dass es Tote gegeben hatte und auf dem Spielfeld ein Durcheinander herrschte.
swissinfo: Schliesslich entschieden Sie sich, den Match durchzuführen. Für Sie immer noch der richtige Entscheid?
A.D.: Es war der am wenigsten Schlechte! Ich denke heute noch, dass wir dies gut gelöst haben. Der Schiedsrichter ist der Chef an Bord, doch an diesem Final-Abend war die gesamte UEFA-Spitze vor Ort. Wir haben gemeinsam die verschiedenen Szenarien durchgespielt.
Niemand konnte mir befehlen, auf den Platz zu gehen. Doch ich war überzeugt, dass es nötig war, zu versuchen, diesen Abend so «normal» wie möglich zu beenden.
Mein Ziel war es, absolut zu verhindern, dass die Auseinandersetzungen wegen einer Evakuierung des Stadions ohne einen Match weiter eskalieren könnten. Natürlich hatte das Spiel nicht mehr die gleiche Bedeutung. Und ich wusste, dass sich niemand an das Spiel erinnern würde.
swissinfo: Ist der 29. Mai 1985 für Sie ein Wendepunkt in der Geschichte des modernen Fussballs?
A.D.: Ich denke, in diesem Moment hat man wirklich realisiert, wohin der Fussball führen kann. Es gab schon vorher dramatische Vorkommnisse, doch das war meistens auf nationaler Ebene, und die Ereignisse wurden verschwiegen oder relativiert.
Doch an diesem 29. Mai wurde auf neutralem Boden und auf internationalem Niveau gespielt. Die Tragödie erzeugte eine Art Elektroschock. Der Fussball musste zugeben, dass er sich selbst nicht mehr im Griff hatte.
Darum war klar, dass Massnahmen ergriffen werden mussten, wollte der Fussball-Sport als solcher überleben. Es war der Auslöser für Stadien, die nur noch Sitze haben, ohne Absperrungen, dafür mit mehr Sicherheitsleuten, Kameras, Listen unerwünschter Personen und so weiter.
swissinfo: Kann die Schweiz die Sicherheit an der Euro 2008 garantieren, die sie zusammen mit Österreich organisiert?
A.D.: Die letzten Auseinandersetzungen unter Fans im Schweizer Fussballcup sind kein gutes Vorzeichen für diese Veranstaltung. Doch während der Euro 2008 wird sich die Schweiz im internationalen Schaufenster befinden. Daher werden die Veranstalter sicher alles unternehmen, um eine maximale Sicherheit und einen gefahrlosen Wettbewerb zu garantieren.
Es ist nicht gut, wenn die Zuschauer Angst haben, ins Stadion zu gehen. Und falls die Schweiz sich nicht in der Lage sieht, die Sicherheit zu garantieren, muss sie Hilfe von aussen holen.
Die starke Präsenz von bewaffneten Menschen in Fussballstadien scheint mir immer etwas seltsam. Doch sie ist nötig, um den Fussball am Leben zu erhalten.
swissinfo-Interview: Mathias Froidevaux
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
Beim Drama im Heysel-Stadion sind am Abend des 29. Mai 1985 in Brüssel 39 Menschen ums Leben gekommen und 600 verletzt worden.
Insgesamt befanden sich über 60’000 Personen im Stadion.
Der Schweizer Schiedsrichter André Daïna entschied sich trotzdem für eine Durchführung des Matches zwischen Liverpool und Juventus Turin, den die Italiener durch einen Penalty von Michel Platini mit 1:0 gewannen.
Nach der Tragödie wurden alle englischen Klubs bis 1990 von europäischen Cup-Wettbewerben ausgeschlossen.
Am 29. Mai 1985 kamen im Brüsseler Heysel-Stadion 32 Italiener, 4 Belgier, 2 Franzosen und 1 Irländer ums Leben. Sie waren von englischen, teilweise stark alkoholisierten Hooligans angegriffen worden.
Eine Stunde vor Matchbeginn waren die Juve-Fans von den Engländern angegriffen worden, die nur durch einfache Absperrgitter voneinander getrennt waren. Die Italiener flüchteten darauf gegen das Ende der Tribüne, weil die Türen auf den Rasen, die einzige Fluchtmöglichkeit, geschlossen waren. In der Panik waren Dutzende Menschen gegen die Gitter und zum Teil zu Tode gedrückt worden. Weitere Tote gab es, als noch eine Begrenzungsmauer einstürzte.
Das Heysel-Stadion trug diesen Namen von 1945 bis 1995. Vorher hatte es «Stadion der Hundertjahrfeier» geheissen, heute trägt es den Namen «König-Baudouin-Stadion». Nach dem Umbau fasst es noch 40’000 Zuschauer.

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